Wunden und Entscheidungen - Nayad

19. 11. 2076 08:12
Freitag, der Morgen nach dem Run

Das Zischeln ihres Schutzgeisteseists, der sich unter dem Bett einkringelt, zieht Nayad aus ihrem tiefen Schlaf. Die Schmerzmittel, die Dr. Percival, Holliday oder Weazel … oder alle, ihr verabreicht hatten, am Abend zuvor hatten bis jetzt eine gute Wirkung gezeigt. Jetzt zieht es leicht an den Einschusswunden an ihrer Schulter und ihrem Bein. Vorsichtig streicht sie mit der Handfläche über Candys Schulter. Die Magierin liegt eng an ihr, Nayads Kopf auf ihrer Brust noch von ihrer Panik in der Nacht davor. Als Nayad ihre Hand heben will um zu zaubern, schnellt Candys Hand vor um sie aufzuhalten. “Lass das. Du bist müde, du bist drained. Du brauchst hier keine physische Maske,” sagt sie mit müdem, aber klaren Tonfall. Nayads blaue Augen sehen hoch und treffen die braunen Augen von Candy. “Aber…” setzt sie an, dann verengen sich die Augen der Kräuterhexe. “Nichts, aber. Du bist erschöpft. Es ist nichts was ich nicht schon gesehen habe, Andromeda.” Verlegen senkt Nayad wieder ihre Hand und sieht das erste Mal seit einiger Zeit an sich herunter, vorbei an ihrem Sport BH, ohne die physische Maske. Zwei große Narben auf ihrem Bauch sind nur die Krönung von allem. Hautflecken von erwachten Pflanzen, Narben von Teufelsratten und ähnlichem, und ihrer generellen Zeit als Squatter hatten ihre Spuren hinterlassen. Tränen steigen ihr in die Augen als sie bemerkt wie Candy vorsichtig einzelne Stellen mit den Fingerspitzen nach fährt. “Wenn du schläfst, verschwindet die Maske… Ich hab es schon am ersten Abend bemerkt, aber du hast nicht so gewirkt, als ob du darüber reden wolltest.”

Die Gorgone schluckt leicht, dann nickt sie. “In der Zeit in der ich als Squatter gelebt habe… Es war einfach nie Geld da um irgendwas dagegen zu tun. Ich fühl mich eh schon immer wie das hässliche Entlein und ich will einfach nicht… Das Mitleid… oder die herablassende Blicke, weil ich mir das ja selbst angetan habe… Das kann ich noch nicht… Ich arbeite daran… aber seit ich wieder zu Hause war, bei meinem Vater… Irgendwie erwartet man, dass ich… ich aussehe als ob ich nie das Haus verlassen hätte…”

Candy drückt ihr vorsichtig einen Kuss an die Stirn, dann legt sie ihre Hand in ihre. “Das kriegen wir hin… aber die physische Maske ist keine permanente Lösung. Ok?” Wieder nickt die Gorgone und drückt sich etwas enger an ihre Partnerin. “Weiß…” Candy zögert einen Moment, dann drückt sie Medeas Hand, “weiß euer Doc von all den Narben?”

“Ja… Es kam auf. Der Doc hat mir ein paar Tipps gegeben. War ein langes Gespräch.”

“Wie war es?”

Nayad zögert kurz, “Es war gut. Doc hat viel Geduld mit mir… Meine Blutergebnisse waren eindeutig Metasapient. Das heißt, keine DNIs, keine Cyberware. Troden auch nicht. Er geht davon aus, dass bei mir … Naja, dass ich im Kopf anders bin als ihr. Ich will gar nicht so darüber nachdenken mit allem was momentan los ist.”

“Das ist okay, lass dir Zeit damit… das ist ja auch alles viel auf einmal…”

“Ist es… Aber er meinte er hat keine Krankheiten entdeckt und mir direkt noch zwei Impfungen verpasst und in meine Akte eingetragen. Er hat mir ein paar Medikamente eingetragen, die ich mir verschreiben lassen soll wenn… falls wir hier rauskommen. Momentan kommt er nicht an sie ran. Etwas womit die Narben nicht mehr so deutlich zu sehen sein werden, etwas gegen die Flecken aus den toxischen Teichen. Ein Nahrungsergänzungsmittel. Noch drei Impfungen, die ich mir geben lassen soll, und so weiter…”

Candy mustert die Gorgone, dann streicht sie ihr über die Kopfhaut und krault sie. “Hey… wenigstens erste Ergebnisse. Das ist gut.”

“Mhm,” murmelt Medea und genießt das Gefühl. Sie liebt es wenn Leute das tun, aber die meisten hatten zu viel Angst vor ihren Begleitern um sie dort anzufassen. Für einen kurzen Moment schließt sie wieder die Augen, dann sieht sie Candy wieder in die Augen. “Komm mit mir…”

“Wohin?” fragt die Magierin leicht lachend. Dann legt sie ihr Kinn auf Medeas Kopf. Zwischen ihnen liegen ihre Begleiter und schlafen eingekringelt.

“Einfach hier raus. Wir haben vielleicht einen Weg raus… Also wir arbeiten daran… und ich will, dass du mit mir kommst…”

Einen Moment lang grinst Candy breit um einen Scherz zu machen, aber Medeas Blick verrät ihr, dass sie es ernst meint. “Das kann ich nicht, Medea… Ich hab den Laden hier… Mein Haus… Das Grab von meinem Bruder ist hier… Ich kann nicht einfach gehen.”

Etwas frustriert rümpft Medea die Nase und setzt sich langsam unter Protest von Candy auf, die sich dann auch aufsetzt. “Candy, du hasst es hier. Du hasst alles was hier passiert ist. Ich bin nicht gut in vielen sozialen Dingen, aber das weiß ich. Hör zu… Wir haben am ersten Abend darüber gesprochen was dir passiert ist… Wie du zusehen musstest, dass Kunden und Freunde von dieser Krankheit wahnsinnig wurden. Wie Leute anfingen sich gegenseitig anzugreifen und später…zu… essen.” Nayad beobachtet wie Candys Miene immer dunkler wird und ihre Hände sich in ihre Bettdecke krallen.

“Und wo soll ich hin? Alles was ich habe ist hier. Das geht nicht so einfach. Nicht alle haben einen reichen Daddy zu dem sie flüchten können.”

Etwas verlegen, aber auch genervt schnaubt Medea. “Das war etwas un-called for. Der Professor hätte auch einfach sagen können: ‘Ja, nett. Weg mit dir.’ Hat er aber nicht.” Einen Moment lang schweigen sie sich an. Dann reißt sich Medea zusammen und nimmt Candys Hände in ihre. “Du bist unglücklich hier… Du hast immer noch Albträume von der Containement Zone. Ich will einfach nicht, dass irgendwann Boston wieder offen ist und ich mich bei dir melden will nur um rauszufinden, dass du tot bist. Ich hab zu viele Leute verloren um jetzt eine gute Freundin aufzugeben.”

“Was ist mit allem was du hier herausfinden wollest? Das ist die einzige Spur, die du zu deinem biologischen Vater hast. Wenn ich gehe, wenn ich hier nicht den Kontakt halte, dann kriegen wir die Information über ihn nicht.”

“Na und!? Der Mann der mit uns reden sollte ist vielleicht inzwischen eh tot!” Schreit die Kubanerin der ruhigen Amerikanerin zu. Dann seufzt Medea, und spricht etwas ruhiger weiter. “Candy, wir haben doch eh noch nichts an Infos… Wir haben einen Fakenamen und, dass seine Aura blitzt, was auch immer das bedeutet. Jonathan Seawright ist jetzt auch nicht der ungewöhnlichste Name. Das sind doch keine richtigen Infos… Und, dass er von Havanna nach Boston geflogen ist ist über 20 Jahre her… Das ist mir wichtig, ja, aber nicht so wichtig, dass ich hier bleibe…”

Verzweifelt und sichtlich frustriert, entgegnet Candy “das ist nicht so einfach, Andromeda! Wo soll ich denn hin!? Ich habe dann nichts mehr! Gar nichts!”

“Du wärst bei mir! Du könntest mit zu mir nach Hause kommen bis die Versicherung für den Laden durch kommt. Du hast doch selbst gesagt, dass davon kaum was übrig ist. Verdammt nochmal, du bist kein Parasit. Ich will einfach wissen, dass es dir gut geht. Du bleibst bei mir, bis sich die Lage ändert und dann kannst du machen was du willst. Aber es geht dir nicht gut hier… und ich will dir einen Weg raus geben… sonst hängst du hier fest…”

“… und was mach ich dann?” Candy seufzt leise.

“Du meinst, ‘was machen wir dann?’ Das was wir vorher auch gemacht haben. Eine neue Spur nach meinem Erzeuger suchen. Irgendwo muss der Arsch ja sein. Du wilst doch selbst inzwischen sehen was das für ein Typ ist. Wenn wir schon dabei sind… Könnten wir irgendwo hin reisen? Ich will Angola sehen, oder Griechenland… Indien soll nett sein.”

Einen moment lang sieht Candy sie nur an, dann nickt sie leicht mit einem kleinen Lächeln. “Okay…”

“Okay.” Medea lächelt die andere Frau an und streicht ihr durch die Haare. Sie wirft einen Blick auf ihr Komlink, dann legt sie sich wieder zurück und zieht Candy mit sich. „Nett hast du’s hier,“ erwähnt die Magierin und lässt ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Dann grinst sie Medea an. „Du weißt, dass sie dich jetzt keine Sekunde mehr in Ruhe lassen werden wegen uns.“

„Pf! Sollen sie kommen. Ich kann ihnen nichts sagen zu etwas wo nichts ist.“ Murrt Medea und zieht ihre Decke eng um sich ohne dabei ihre Verbände verrutschen zu lassen. „Du warst sicher hier, bei uns. Das war mir wichtiger als was sie denken. … Und du warst die einzige bei der ich …“ sie schluckt leicht und sucht nach den richtigen Worten.

„Die einzige, die sich nach dem Run anhört wie cool der Wald ist, auch wenn man beinahe darin stirbt? Ach nein, das war danach. Davor war… Ich die einzige bei der du dich sicher genug fühlst emotional loszulassen, ohne, dass deine Begleiter mich in eine Statue verwandeln, denn das kann durchaus passieren wenn du emotional überfordert bist, was der Grund ist weswegen du bei Streit sofort die Kurve kratzt.“

Erstaunt schaut Andromeda Candy an. Sie denkt einen Moment darüber nach, dann nickt sie zustimmend und zuckt mit den Schultern. Sie war so frustriert und sauer letzte Nacht, aber sie war in keiner Verfassung, ihrer Wut physisch nachzugehen. Amüsiert beobachtet Candy, wie die Gorgone die gegebene Information verarbeitet. Kurz schaut Medea auf die Uhrzeit auf ihrem Komlink und beschließt dann, dass es noch ein bisschen Zeit hat bevor sie Candy durchs Fenster nach Hause schmuggeln muss. Also kann sie auch ruhig noch eine Stunde entspannen.

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Uhhhh :heart_eyes:
Sehr schöne Fiction :blush:

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