Midnight Train - Pierce

Trigger Warnings

Vampirismus, Verlust von Ehepartner, Suizidgedanken, Beschreibung von Verletzungen (an Fingern, iiiih)

Musik-Empfehlungen

Für Stimmung: Glitch Mob: Between Two Points, We Swarm, How to be Eaten by a woman
Drink the Sea - Album by The Glitch Mob | Spotify

Pierce hört allerdings eher Dinge von Gay Paris :wink:
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TL;DR gibt’s unten, damit ihr euch nicht spoilert :wink:


Der Nachtexpress von New Orleans nach Boston schnurrte mit lächerlicher Geschwindigkeit die Ostküste hinauf; schlängelte sich durch die bewaldeten Täler Marylands. Sie hatten gerade die Lichtsäulen und weißen Prunkbauten DeeCees hinter sich gelassen, einem der wenigen Zwischenstopps, die der Schnellzug nahm: New Orleans, Atlanta, Washington D.C., New York, Boston. Pierce war froh, in DeeCee nicht umsteigen zu müssen. Erstens hatte sie gute Gründe, den Nachtexpress zu wählen, eine Verbindung die um 22:04 Uhr den NOLA-Plex verlassen hatte, um in den späten Morgenstunden, gegen 6:30 in Boston einzufahren. Sie hatte es also ein bisschen eilig. Zweitens schmeckte ihr der Astralraum DeeCees gar nicht: Das kannibalistische politische Parkett, der kalt-berechnende Opportunismus der Stadt, Lug und Betrug… DeeCee war eine Stadt voller… Vampire.

Chloe Carlisle war einmal eine normale, menschliche Sicherheitsberaterin und Bodyguard bei einem auf Personenschutz spezialisierten Zweig von Lone Star gewesen. Ehrliche, gute Arbeit, Ausbildung nach militärischem Standard auf der Akademie in Houston, Verlegung in ein Spezialprogramm für alleine arbeitende Feldagenten. Sie war eine der besten Absolventinnen des Programmes gewesen. Nicht Jahrgangsbeste, aber für ihre effiziente und professionelle Arbeitsweise bekannt. Auf der Akademie hatte sie auch Jonathan getroffen. 2066 hatten sie geheiratet, 4 Jahre nachdem sie sich kennengelernt hatten. Bei Jonathan hatte Chloe sie selbst sein können. Bei ihm hatte sie ihre Professionalität auch fallen lassen können. Er hatte sie glücklich gemacht.

Über Pennsylvania regnete es. Tropfen wurden vom Fahrtwind die Scheibe entlanggedrückt, machtlos in einem Spiel größerer Kräfte.

2072 war sie in den Dienst von Malcolm Benoit, einem reichen Erben in New Orleans abgestellt worden. Sein Gehabe war nicht ihr Fall, seine politischen Ansichten interessierten sie nicht unbedingt. Es war ein Job gewesen, und Jobs erledigte sie gewissenhaft, und gut. Benoits Politik wurde für sie persönlich, als der größenwahnsinnige Aristokrat unbedingt einen Weg finden wollte, astrale Macht für Mundane zugänglich zu machen, indem diese selektiv mit MMVV infiziert wurden. Benoit bekam nicht ganz was er wollte, und wurde zum Vampir. Eine Entwicklung, die seinen Wahn verschlimmerte. Unfreiwillig wurde Chloe Pierce Teil der Experimente, und ein weiterer Fehlschlag. Ein weiterer Vampir, auf die Welt losgelassen durch einen extremistischen Transhumanisten. Sie hatte nicht gewusst, was mit ihr passierte… nicht sofort. Als sie es herausfand, war sie zuhause gewesen. Jonathan hatte die Nacht nicht überlebt. 2074. Seitdem war Chloe Pierce nicht mehr glücklich gewesen.

Sie wendete den Blick von der regenverhangenen Landschaft ab und sah herunter auf ihre weiße, schlanke Hand mit dem schartigen und zerkratzten Weißgoldring an ihrem Finger. Sie hatte das Blut ihres Mannes nie abgewaschen, aber es war über die Jahre verblasst. Der Finger daneben hielt eine andere Art von Schmerz für sie bereit: Der kleine Finger stand in einem hässlichen Winkel ab, geschwollen, wahrscheinlich mehrfach gebrochen. Sie sah ihrer Hand einige Minuten lang dabei zu, wie sie den Finger ganz von selbst zurück in einen natürlicheren Winkel bog.

Das Leben als Vampir hatte seine Vorteile. Die Regeneration auch schwerster Wunden war einer davon. Astrale Macht ein anderer. Aber sie konnten nicht aufwiegen, was Chloe hatte aufgeben müssen. Sie konnten nicht aufwiegen, was sie regelmäßig tun musste, um nicht zu verhungern, und von diesen Kräften überhaupt Gebrauch machen zu können.
Pierce hasste den Vampirismus. Inbrünstig und von ganzem Herzen. Sie hatte ihn in Malcolm Benoit gehasst, in Madeline LeClaire, und sie hasste ihn in sich selbst. Sie hatte unzählige Nächte kurz vor dem Verhungern verbracht, andere mit einer Waffe im Mund. Unschlüssig, ob es das wert war. Bis sie zum Schluss gekommen war, dass sie noch etwas zu erledigen hatte.
Chloe Pierce war von der Beschützerin zur Jägerin geworden.
2075 hatte sie mit einem Team von Shadowrunnern Malcolm Benoit getötet. Und in den Monaten danach weitere Mitglieder der roten Loge in New Orleans. Sie dachte noch regelmäßig an Brokkoli, den sie in den Tod geschickt hatte. Ihr war es nur um Rache gegangen. Aber mit Benoit hatte es nicht geendet. Jetzt jagte sie andere MMVV-Infizierte, die die Kontrolle verloren hatten. Und sie jagte den Ordo Maximus, einen Orden von Vampiren mit Weltherrschafts-Ambitionen.

Den gebrochenen Finger hatte sie einem Dzoo-Noo-Qua zu verdanken. Ebenso den offenen Rippenbruch, der ihr das Shirt ruiniert hatte, die Gehirnerschütterung und den ausgebissenen Eckzahn… wobei sie an letzterem wahrscheinlich selbst schuld war. Dumm, Chloe, dumm. Das weißt du besser.
Das MMVV-Virus gab es in drei Geschmacksrichtungen. MMVV-III war der Krieger-Strang, der alle Metatypen in Ghule verwandelte; stinkende Leichenfresser die Mal mehr, Mal weniger Bewusstsein behielten, und sich in Rudeln zusammenrotteten. MMVV-II war ein Strang der Erkrankung, der aggressive Killermaschinen erzeugte, in der Lage ohne Sinn und Verstand zu töten und mit dem Bedürfnis, rohes metamenschliches Fleisch zu fressen. MMVV-I war der Strang, an dem auch sie erkrankt war. Er erzeugte Vampire und ähnliche einzelgängerische, manipulative Blutsauger. Intrigierende Wesen der Schatten.
Ein Dzoo-Noo-Qua war früher einmal ein Troll gewesen, jetzt aber mit MMVV-I infiziert. Umgangssprachlich wurden Dzoo-Noo-Qua oft als Höhlentrolle bezeichnet - nicht zuletzt wegen ihrer steinharten und nahezu undurchdringlichen Haut.

Haut, die stabil genug war, um einen Vampirzahn abzubrechen.

Das Problem war, dass Chloe Pierce Prinzipien hatte. Sie versuchte, so selten wie möglich zu trinken. Selbst, wenn sie ohnehin töten musste: Die Erfahrung die eigene Lebenskraft, die eigene Essenz, Schluck für Schluck ausgesaugt zu bekommen, war etwas unbeschreiblich Schreckliches. Aber manchmal war sie darauf angewiesen.

Unwillkürlich fuhr ihre Zunge durch ihren Mund, und tastete nach der Stelle, wo ihr Körper gerade einen neuen, spitzen, Eckzahn bildete. Ein Blick auf ihre Uhr zeigte ihr, dass die Verletzung jetzt schon fast 20 Stunden alt war. Sie verdrehte genervt die Augen. So lange sollte so etwas eigentlich nicht dauern.

Einen gesunden Metamenschen vollständig durch das Trinken zu töten konnte einen Vampir in Sachen Essenz-Bedarf ein halbes Jahr über Wasser halten, solange regelmäßig etwas Blut als Nachschub kam. Ein Vampir, der seine Kräfte und seine Regenration nutzen wollte, brauchte mehr. Und Pierce bekam meistens etwas weniger. Sie hatte die Essenz des Dzoo-Noo-Qua eigentlich gut gebrauchen können… deshalb die unfassbar dumme Idee mit dem Biss. Der folgende Kampf hatte ihr einen Großteil der Verletzungen eingebracht, bis sie es endlich geschafft hatte, den Troll-Vampir mit Pfefferspray und einem gut gezielten Schuss ins Auge zu töten.
Wobei der Begriff “Troll-Vampir” ja eigentlich nicht passte. Anders als bei Menschen, Orks und Elfen hatte MMVV-I in Trollen keine Wirkung, die die mentale, astrale und soziale Kapazität erhöht, sondern führte dazu, dass sie sich in abgelegenen Orten isolieren, und mit Lock- und Lauertaktiken jagen.
Das machte Dzoo-Noo-Quas gefährlich, aber nicht so gefährlich wie die MMVV-II-Freaks, oder die wirklichen MMVV-I-Vampire.
Vampire, Banshees, Nosferatu, Wendigos und Sukuyan waren die Rattenfänger unter den Infizierten. Durch ihre charismatische und astrale Präsenz, ihre Fähigkeit sich unter Nicht-Infizierten zu bewegen, und ihre natürliche Beherrschungsmagie neigen sie dazu, andere geistig schwächere MMVVler um sich zu scharen. Viele Vampire bilden Rudel, oder Kulte mit ihnen im Zentrum. Und Ghule, Werwölfe, Nager und Grendel folgen ihnen. Teilweise auch andere Vampire, Banshees und Nosferatu. Und so entstanden machthungrige Gruppierungen wie der Ordo Maximus.

Mit einem solchen Kult hatte sie vor einigen Monaten erst zu tun gehabt, auf der Isla de la Juventud vor Kuba. Eine Gruppe wild gemischter Infizierter in einem verlassenen Schwimmbad in den Slums. Sogar ein Schnitter war dabei gewesen. Pierce schnaubte verbittert. Schnitter waren eigentlich ziemlich einzelgängerische Psychopathen. Sie hasste es, Schnitter zu jagen.
Die Gruppe war angeführt worden von Nix Naught, einer Piratin, die ihr und ihren Runnerbekanntschaften geholfen hatte, eine Apokalypse abzuwenden. Eine Apokalypse, die beinahe Benoit zurück unter die Untoten gebracht hätte.
Chloe hatte Nix Naught nach dieser Sache am Leben gelassen. Vorerst.
Nix und ihre Gruppe fraßen Leute in den Slums einer der erbärmlichsten Inseln der karibischen Liga, als Zuflucht für Infizierte, gaben ihr Bestes, hielten sich zurück.

Aber so leicht war es leider noch nie gewesen. Vampire erschaffen Gefolgschaften. Kulte. Rudel. Früher war Nix die rechte Hand des gefürchtetsten Piraten der Weltmeere gewesen. Nix war an Macht gewöhnt, und daran dass man ihr folgte. Dass man auf sie hörte.
Hatte die kultführende Sukuyan-Vampirin den Tod verdient? Wahrscheinlich. Eine Aufgabe die Pierce nicht alleine hätte durchführen können… Denn es genügte nicht, der Infizierten-Schlange den Kopf abzuschlagen, man musste das ganze Ding in Scheiben schneiden und verbrennen.
Denn würde Nix einknicken, ihrer vampirischen Natur nachgeben, würde eine Flut aus untoten Fangzähnen Nueva Gerona ausrotten. Ihre Ghoule, Wendigos, Grendel, Schnitter, Nager und Goblins würden jeden Unschuldigen in der ganzen Stadt jagen und fressen. Niemand könnte sich ihnen in den Weg stellen. Niemand interessierte sich für Nueva Gerona. Nix könnte dort regieren wie eine Diktatorin.

Das war es, was Pierce an MMVV-I-Infizierten hasste. Und an Politikern: Man konnte ihnen nie trauen.

Und Nix Naught war beides.

Inzwischen war der schlanke Finger wieder eingerenkt, und die Schwellung ging zurück. Ihre filigrane Hand lag auch nach all den quälenden Strapazen, die Chloe Pierce hatte erleben müssen, ruhig auf ihrem Schoß. Für immer geschmückt mit dem Ring ihres Ehemannes, den MMVV-I getötet hatte. Den sie getötet hatte.

Sie sah wieder aus dem Fenster. Pennsylvania. Ihr Mundwinkel zuckte, ein kurzes Lächeln. Eine verbitterte Vampirin schaute auf die regnerische Landschaft eines Landes, das auf “-sylvania” endete, nach Rache sinnend. Die sechste Welt war ein beschissener Ort.
Vielleicht würde sie ihn von Boston aus ein bisschen besser machen können, an der Seite eines verschrobenen Vampir-Verschwörungstheoretikers und reichen Bestseller-Kitsch-Autors. So dumm das auch klang. Sie öffnete das ARO, wahrscheinlich zum dreißigsten Mal auf dieser Zugfahrt.

“Miss Pierce,

Ich denke nach Ihrer ersten Aufnahmeprüfung ist es an der Zeit, dass wir uns in Persona begegnen. Treffen Sie mich in Boston, und wir können über Ihren Beitritt zur Gilde sprechen.

Projekt Surge ist nicht mit Benoit gestorben. Wir haben eine Spur.

Hochachtungsvoll,

Martin de Vries

P.S.: Die anderen Jäger haben von Ihrer gemeinsamen Aufräumaktion in Nueva Gerona berichtet. Gute Arbeit. Nix Naught und ihr Rudel von Infizierten werden die Stadt nicht weiter bedrohen.”


TL;DR
  • Pierce sitzt im Zug von NOLA nach Boston
  • sie denkt darüber nach, wie sie zum Vampir wurde, und warum sie Vampire jagt
  • in der Mitte gibts ziemlich viele spannende Infos über MMVV-Varianten
  • Pierce hat nach dem Finale Nix Naught und ihr Rudel von Infizierten in Nueva Gerona getötet, weil sie diese für zu gefährlich hielt. Nix hätte jederzeit machthungrig werden und durchdrehen können.
  • Der Vampir-Roman-Bestseller-Autor und MMVV-Infizierten-Jäger Martin De Vries lädt Pierce nach Boston ein, um sie zu treffen
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Ich will jetzt nicht hier alles mit Gifs vollspammen aber stell dir vor, dass Meryl Streep dir zu jubelt ! :heart_eyes: :innocent:

Spaß beiseite, es ist so gut geschrieben und sehr spannend. Und so ein toller Twist :wink: :heart_eyes:

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Sehr cool mal mehr wirklich insight in Pierce zu bekommen. Die lässt sich ja sonst nicht so wirklich in die Karten schauen und so erlebt man wirklich mal mit wie sie Dinge wahrnimmt.
Und mit dem Twist bin ich auch sehr gespannt was das noch so auslöst!

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Danke sehr! :slight_smile:
Bisschen lang und ereignislos, aber Pierce erzählt ja nicht viel.
Außerdem dürfte hiermit klar sein, dass Pierce in Boston anwesend sein wird :vampire:

Danke für eure Hilfe mit dem Twist als Proofreader!

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:vampire: Immer gut einen Blutsauger auf seiner Seite zu haben. Vor allem falls Ben nicht beschließt ein Gamblers Haven 2 in Boston zu eröffnen :joy:

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Ich glaube, Ben hat ganz gut zu tun mit einem einzigen Haven ^^

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Wir sind immer gerne Twist Proofreader. (Aus definitiv egoistischen neugierigen Gründen bei mir :smirk: :joy:)
Aber ich find auch super, dass man mal bisschen mehr über sie erfährt und eine Fiction braucht ja nicht immer nur pure action. Da Pierce eher auftrifft wenn irgendwas abgeht ist es eigentlich fast cooler sie mal nicht in action zu sehen und zu sehen wie sie reflektiert (:

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