Lange Nächte - Venus

James betrachtete still wie Minoru trotzig seinen Blutbeutel trank. Der kleine Junge war überaus anstrengend gewesen seit Charlotte in ein Zimmer in Seattle verlegt wurde. Er konnte noch nicht verstehen wieso seine Mutter schon wieder fort war und James konnte es seinem Sohn nicht übel nehmen selbst mit dem Wissen, dass Charlotte meistens unfreiwillig von ihnen entfernt wurde. James war nur froh darüber, dass Minoru den größten Teil des Tages durch seinen digitalen Unterricht abgelenkt war. Sie hatten endlich jemanden gefunden, der willig war ein Kind mit MMVV zu unterrichten und nach diesem Sturm sogar Hausbesuche machen würde. Wenn Minoru sich gut anpassen würde daran würde er sogar irgendwann mit anderen Kindern zusammen lernen können, vielleicht sogar ab nächstem Jahr in die Schule gehen. Das einzig Gute an der Infektion war, dass er viel schneller darin war sich anzupassen und das zu lernen was er verpasst hatte.

Nach einer Weile konnte James bemerken, dass Mino immer träger wurde, ausgepowert von seinem Durst und dem langen Tag. Mit wenig Widerstand machte James Mino bettfertig und legte ihn dann hin. Ein gemurmeltes, “will auf Mummy warten”, gab Mino von sich als James ihm einen Plüschdrachen in die Arme legte.

“Ich weiß, Kleiner, aber Mummy kommt heute Abend nicht wieder. Denk an die Geschichte die ich dir heute Mittag erzählt habe. Deine Mummy beschützt dich, immer. Selbst als sie den Unfall hatte, hat sie dich immer beschützt.”

“Mummy morgen da?”

“Minoru… das weiß ich nicht. Schlaf jetzt.” Trotzig drehte sich der kleine Junge weg und kuschelte seinen Drachen enger an seinen kleinen Körper. James drückte ihm einen Kuss an die Stirn, machte das Licht aus und verließ das Zimmer. Als er in der Küche anfing sich selbst eine Kleinigkeit zu essen zu machen fiel sein Auge auf die digitale Karte von Charlottes Mutter. Er seufzte. Die Geschichte, die er Minoru erzählt hatte war einfach: böse Menschen sind eingebrochen und haben Mummy verletzt, aber sie hat ihn beschützt. Die Realität war um einiges furchtbarer. Schuld schoss durch ihn, als er sich an die Küchenzeile setzte und durch das Fenster in den Sturm sah.

Vor fast 9 Jahren sah die Welt nicht so trüb aus wie heute. Sie waren naive dumme Teenager gewesen, die sich clever fühlten. James konnte jetzt noch Charlotte am morgen vor dem Unfall sehen, wie sie schnaufend aber glücklich durch die Wohnung watschelte auf der Suche nach Frühstück. Er hatte ihr gesagt sie soll sich eine Pause gönnen, einen Spa-Tag. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie im achten Monat Schwanger in die Barrens fahren würde ohne ihren Fahrer und ihren persönlichen Security an ihrer Seite. Nicht einen Tag nachdem sie noch darüber gesprochen hatten wie unsicher die Barrens waren, und wie unvernünftig ihre Eltern waren das Angebot einer Wohnung in ihrer Nähe auszuschlagen. Bevor dem Unfall war James das Beste was Charlotte hätte passieren können, laut ihren Eltern, danach gab es nichts was er tun konnte um diese Beziehung jemals wieder zu retten, und er hatte sie nicht nur für sich zerstört, auch für Charlotte.


Zeitgleich saß Charlotte an ihrem Fenster in einem kleinen Raum irgendwo in Seattle und starrte hinaus in den Sturm. Sie hatte zwar Mittags mit James und Mino einen kurzen Video-Call gehabt, aber es war nicht dasselbe, wie zu Hause zu sein. Sie hasste es schon wieder fort zu sein, besonders jetzt wo sie wusste, dass ihre Mutter wusste wo sie sind. Offensichtlich rechnete sie aber nicht mit James, was ihr ein Vorteil war. Sicher war sie aufmerksam geworden, weil sie wieder ihren Mädchennamen nutzten; Baker. Charlotte hatte garnicht daran gedacht, dass das auf sie zukommen könnte. Frustriert warf sie sich zurück auf das Bett und starrte die Decke an.

Die letzten Jahre hatte sie gelernt mit dem was passiert war auszukommen. Es zu verarbeiten und ihre Konsequenzen daraus zu ziehen. Sie wusste, dass James daran mehr nagte als sie es tat, mehr Schuld empfand, aber das war nichts womit sie ihm helfen konnte. Sie wusste, dass sie Teil des Problems war. Charlotte war bewusst, dass sie oft leichtsinnig war, dass sie zu oft zuerst an andere und dann erst an sich selbst, oder James, oder an Mino dachte, auch dass sie viel zu stur sich einem Problem widmete, welches oft Lebensgefahr für alle beteiligten bedeutete. “Manche Sachen können nicht zu zweit getragen werden”, sagte sie sich, “er schafft das.”

Doch seit die Karte angekommen war war das Thema wieder präsent in ihrem Gedächtnis, und wie James musste sie alleine damit fertig werden, nur waren ihre Konsequenzen die sie daraus zogen gegensätzlich. Sie wusste, dass James diese Beziehung für sie wiederherstellen wollte, aber er respektierte ihren Wunsch. Charlotte hatte entschieden besser zu sein, und dass ihre Mutter niemals Teil ihres Familienlebens sein würde, und niemals “Oma Susi” wie sie sich selbst nannte. Nein, Suzuki Baker konnte bleiben wo auch immer sie war. Weit weit weg.

Als sie ihre Augen schloss, war sie wieder dort vor neun Jahren. Schwach, orientierungslos im Krankenhaus, ohne ihr Kind. Panik fuhr durch ihren Körper, doch sie konnte sich kaum bewegen. Eine Person neben ihr begann ihr vorsichtig die Stirn zu tupfen mit einem kalten Tuch. “Charlotte, Liebes, Mutter ist hier… Beruhig dich.” Als sich ihr Blick langsam fokussierte auf die Person neben ihr, bemerkte sie in ihr die Anspannung und, dass sie nicht mal ihre Jacke ausgezogen hatte. Verzweifelt murmelte Charlotte vor sich hin, was passiert sei, wo ihr Kind sei … wo James sei. Daraufhin verfinsterte sich das Gesicht ihrer Mutter.

“Charlotte, du musst jetzt stark sein. Stärker als ich es bin. Dein Sohn, wird es sehr wahrscheinlich nicht schaffen… Wir haben James vorerst verboten zu dir zu kommen. Du wirst dich erholen und wenn es dir besser geht kommst du mit uns nach Washington.” Verwirrung breitete sich in ihr aus, und Angst drehte ihr den Magen um. “Wir kümmern uns darum, dass du von diesen schlechten Menschen weg kommst. Sobald es dir besser geht organisieren wir einen Anwalt für die Scheidung.”

“Nein…James…”, murmelte Charlotte weiter. Leicht hysterisch begann sie wieder den Raum zu scannen und nach ihrem Mann und ihrem Kind zu rufen. So gut sie konnte drückte sie ihre Mutter von ihrer Seite. Sie konnte ihrer Mutter den Affront ansehen, als sie sich sammelte und dann ihre Jacke enger zog und einen Koffer vom Boden aufhebte, den Charlotte vorher nicht bemerkt hatte.

“Wie du willst. Werd glücklich mit deinem Yakuza Schläger. Charlotte, wir können das nicht. Das ist nicht das Leben was ich für dich wollte, und sicher nicht ein Leben an dem ich teilhaben möchte. Wenn du dich von ihm scheiden lassen solltest, dann ruf uns an. Wir helfen dir immer. Aber bis dahin, wollen wir nicht in deinem Leben sein. Auf Wiedersehen, Charlotte,” sagte sie kühl, und bevor Charlotte verarbeiten konnte was gerade passiert war war sie verschwunden. Still liefen ihr Tränen über die Wangen, bis sie anfing zu schluchzen und dann zu schreien. Sie war allein. Sie war allein irgendwo wo man James verboten hatte zu ihr zu kommen. Sie war allein.

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Oh nein diese feels schon wieder :sob: :sob:

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Wir haben es zum Teil echt nicht mit unseren Eltern. :thinking:
Wie immer sehr schön geschrieben.

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Jap, Eltern sind laut unseren Geschichten das schlimmste :joy:
Und yes feels :smirk: das Beste hab ich ja doch noch aufgeschoben, hab verschiedenes probiert. :innocent:

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War sehr cool zu erfahren warum Mino diese kognitiven Probleme hat! Hatte mich eh schon immer interessiert.

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Ja gut, als Baby/Kleinkind ins Koma gefallen fördert nicht die kognitive Entwicklung :thinking:

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Ja klar, das mit dem Koma wussten wir ja auch. Ich dachte nur nicht dass so ein Unfall dahinter steckt, das fand ich spannend :slight_smile:

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Ja, den Unfall hab ich euch bis jetzt vorenthalten und bis jetzt habt ihr ja auch nur die Mino-safe Variante :shushing_face: :smirk:

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