[TW: Drogensucht, Amputation]
Eine Woche nach dem Angriff - 16.07.2077
Zitternd sitzt Violet auf der Behandlungsliege und wartet in einem kleinen Behandlungsraum auf den Streetdoc Hobbs. Es ist noch nicht lange her, dass sie hier aufgewacht ist. Velma hatte die schwerverletzte Menschin hierher gebracht, nachdem die Orkin sie in der Gasse fand. Der Mann, der Violet angriff, glaubte, dass sie seinen besten Freund ermordet hätte und wollte sich deswegen an ihr rächen. Dabei rammte er ihr ein Messer in den Bauch und zertrümmerte ihren noch verheilenden rechten Arm, bevor Violet ihn bewusstlos schießen konnte.
Die ersten Tage nach der Operation verliefen eigentlich ohne Probleme, doch heute morgen ist Violet mit Schüttelfrost aufgewacht. Sie hat hohes Fieber und ihr Arm schmerzt wieder sehr. Sie weckt ihre beste Freundin und die Orkin hilft ihr, in den Süden Downtowns zu gelangen. Durch die Hintertür eines ehemaligen Restaurants erreichen die beiden die Praxis von Dr. Hobbs.
Als der 40-jährige Doktor die beiden entdeckt, deutet er auf das kleine Zimmer hinter sich. Velma hilft Violet noch auf die Liege, bevor die Orkin sich wieder nach draußen setzt, um dort zu warten.
Als schließlich Dr. Hobbs ins Zimmer kommt schaut er seine ärztliche Kollegin ernst an: “Ich nehme an, wenn du nach so kurzer Zeit wieder bei mir aufschlägst ist das kein gutes Zeichen.” sagt er mit tiefer Stimme. Die beiden kennen sich schon seit einigen Jahren und verstehen sich sehr gut. Zudem hat er Violet schon ein paar Mal wieder zusammengeflickt.
Die Menschin gibt einen leisen Seufzer von sich: “40,1°C Körpertemperatur, Schwindel, Schüttelfrost und starke Schmerzen im Arm. Ich vermute, dass sich die Wunde infiziert hat. Am Bauch spüre ich zwar nichts, aber das kann auch an den Schmerzinhibitoren liegen.” sagt sie erschöpft. Violet könnte am liebsten wieder schlafen. In der Woche hatte sie mühselig probiert wieder etwas Kraft zu sammeln, aber das Fieber hat alles wieder eingefordert.
Dr. Hobbs nickt zustimmend und beginnt mit seiner Arbeit. Als erstes schaut der Doc ihren Bauch an. Das Messer hat eine ziemliche hässliche Wunde hinterlassen, aber dennoch scheint sie zum Glück nicht entzündet zu sein. Als der Streetdoc anfängt, erst vorsichtig die Schiene und dann den Verband am Arm zu entfernen, zischt die Menschin schmerzerfüllt auf. Trotz der Schmerzinhibitoren fühlt sie ein gewaltiges Brennen. Als der Verband ab ist, schauen beide die Verletzung an.
“Verdammter Drek.” kommt von Dr. Hobbs.
Violet schließt resigniert die Augen. Der Arm zeigt typische Anzeichen einer Wundinfektion. Die Nahtstellen sind gerötet und geschwollen und Eiter hat sich gebildet.
“Ich hatte gehofft, dass es sich nicht entzündet.” Hobbs schaut sie betrübt an.
“Und trotzdem ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich so eine schwere Verletzung entzündet. Vor allem bei den Bedingungen. Ich war ja froh, dass der Arm überhaupt noch dran ist, als ich wieder wach wurde." Als Violet unwillkürlich einen Finger bewegt, schießt ein heißer Schmerz durch ihren Körper und sie gibt einen leisen Schmerzenslaut von sich.
„Das ist auch ein Wunder, dass ich die Knochenstücke wieder zusammenfügen konnte. Trotzdem kann ich nicht sagen, ob du ihn überhaupt wieder nutzen kannst, wenn alles verheilt ist. Vor allem jetzt mit der Infektion.“ sagt Hobbs.
„Ich kann nur hoffen, dass der Arm sich wieder erholt. Auf noch eine OP und noch mehr Cyberware kann ich verzichten.“ seufzt Violet. Denn wenn sie ihren rechten Arm nicht mehr benutzen kann, könnte die Menschin sich nur einen Cyberarm leisten. Zudem wäre sie noch länger arbeitsunfähig als ohnehin schon.
„Jetzt müssen wir sowieso erstmal dafür sorgen, dass die Infektion zurückgeht. Ich mache erstmal eine Wundsäuberung und gebe dir Antibiotika. Am besten, du bleibst auch erstmal hier, damit ich dich im Auge behalten kann, falls sich die Symptome verschlimmern sollten.“
Violet nickt noch zustimmend, bevor sie erschöpft die Augen schließt.
Acht Wochen später - 09.09.2077
“Nur noch drei Wiederholungen, dann hast du es geschafft." treibt die Orkin Violet an. Nachdem die Menschin auf der Sportmatte drei weitere Sit-Ups gemacht hat, lässt sie sich erschöpft auf den Rücken fallen.
“Hab ich schon mal gesagt, dass ich Sport hasse?!”, keucht Violet frustriert.
“Dabei sagtest du doch, dass es wichtig ist, die Muskulatur wieder aufzubauen, wenn man so lange bettlägerisch war.” kontert Velma.
“Ist es auch, aber ich bin immer noch so schnell erschöpft von den lächerlichen Übungen.” jammert die Menschin und stützt sich mit ihrem linken Arm auf.
Die Orkin schaut sie streng an: „Dein Körper braucht halt Zeit, um wieder fit zu werden.“
„Ja, das stimmt schon.“ gibt Violet widerwillig zu. „Aber es dauert noch so lange, bis ich wieder arbeiten kann.“ schmollt die Menschin.
Noch nie konnte sie so lange nicht arbeiten und langsam macht es Violet wahnsinnig, so untätig zu sein. Was die Situation noch schlimmer macht, sind die Gedanken, die sich immer wieder in ihr Bewusstsein schleichen: Dass Violet früher zwei Jobs stemmen konnte und nun gerade mal ihre Sportübungen schafft, bevor sie ausgelaugt ist. Dass sie mit Longhaul nicht die ganze Zeit so müde wäre. Wenn sie doch nur etwas nehmen würde, damit sie mehr schafft. Umso schneller wäre sie vielleicht wieder fit. Bis jetzt hat Violet die Gedanken erfolgreich zurückgedrängt, aber es erschreckt sie, wie verlockend sie sind. So schlimm war es das letzte Mal vor Jahren gewesen.
Plötzlich spürt Violet einen brennenden Schmerz in ihrem rechten Arm, sodass sie scharf die Luft einzieht. Doch als die Menschin zu ihrer rechten Seite schaut, existiert da kein Arm mehr, der schmerzen könnte.
Trotz aller Hoffnung, die Violet hatte, war das Glück nicht auf ihrer Seite. Die Nerven waren irreversibel beschädigt und sie verlor erst das Gefühl in den Fingerspitzen und dann später im ganzen Unterarm. Da war es am sinnvollsten den Arm zu amputieren und wenn sie wieder fit genug ist, einen Cyberarm implantieren zu lassen.
“Waren das wieder Phantomschmerzen?” fragt Velma besorgt.
“Ja. Hoffentlich wird es mit dem neuen Arm besser.” sagt Violet besorgt.
“Das wird schon.” versucht die Orkin sie aufzumuntern. „Die OP ist ja schon morgen und es ist auch schon alles vorbereitet.“
“Genau…” sagt die Menschin gedankenverloren.
Auch wenn sie die Prozedur kennt, hat Violet ein mulmiges Gefühl. Der Arm ist zwar schon eine Weile amputiert, dennoch wollten sie warten, bis Violet sich von der Infektion erholt hat, bevor sie sich der nächsten schweren Behandlung unterzieht.
Denn nach der Implantation wird nur Velma für die Menschin sorgen. Sie haben zwar alles nochmal besprochen, aber dennoch bleiben die unangenehmen Gedanken über die Komplikationen im Hinterkopf. Zumindest hat der Streetdoc einen guten Cyberarm auf Lager. Nicht das neueste Modell, aber er ist in guter Verfassung und Violet kann ihn sich leisten. Doch dann ist ihr Geld so gut wie aufgebraucht.
“Nun komm, ich finde du hast dir ein Eis verdient.” Velma grinst die Menschin schief an. Violet fängt nun auch an zu lächeln und hält der Orkin die linke Hand entgegen, damit sie ihr aufhilft.
Zwei Monate später - 12.11.2077
Schon wieder reißt der Faden. Violet gibt einen frustrierenden Laut von sich. Sie nimmt eine Schere und beginnt, die Fake-Wunde auf dem Nahtpad wieder zu öffnen.
Seit einer Stunde sitzt sie vor dem Übungsnahtset, um auf dem Silikon vorgefertigte Wunden zu nähen. Dabei fühlt sie sich wie in ihrer Studienzeit. Violet hat die verschiedenen Nahttechniken schon hunderte Male angewendet und ist eigentlich ziemlich gut darin, aber mit den Cyberarm muss sie das Feingefühl erst wieder erlangen.
Violet merkt zwar die Fortschritte, die sie schon gemacht hat, aber dennoch fühlt sie sich noch nicht wie vorher und sie hasst es.
Die Operation ist gut verlaufen und sie hat den Arm gut angenommen. Violet ist auch froh, wieder einen Arm an der rechten Seite zu sehen. Trotzdem schmerzt es manchmal, als wäre ihr kaputter Alter noch dran.
Genervt lässt sie sich im Sessel zurücksinken. Violet treibt sich zurzeit täglich an, so viel zu üben, wie sie kann. Dennoch fühlt es sich so an, als ob es immer zu wenig ist und dass sie null Kondition hat für mehr. In solchen Momenten muss Violet an früher denken: Wenn die Menschin damals erschöpft von einer Krankenhausschicht war nahm sie gewöhnlich Aufputschmittel oder Longhaul ein, damit sie danach noch als Streetdoc weiter arbeiten konnte. Nachdem sie drogenfrei wurde musste sie gezwungenermaßen lernen damit zu leben, dass ihr Körper nicht immer 120 Prozent geben kann.
Doch Violet ist jetzt schon so lange zuhause, sodass sie immer unruhiger wird und das Verlangen nach ihrem früheren Suchtmittel umso stärker wird.
Normalerweise ist Velma in der Nähe, die sie von den Gedanken ablenkt, doch heute ist die Orkin unterwegs und Violet ist allein zuhause.
Die Menschin wird immer nervöser, bis das Verlangen zu stark wird. Ehe sie genau darüber nachdenkt, steht sie vom Sessel auf, schnappt sich ihre Tasche und geht nach draußen.
Schnell findet sie einen Dealer, der ihr Longhaul verkauft und als sie wieder in der Wohnung ist, nimmt Violet die Droge.
Es wirkt schnell, die Müdigkeit ist wie weggeblasen und ein Glücksgefühl setzt ein, da sie ihrem Suchtdruck nachgegeben hat.
Doch die gute Laune verblasst, als sie ihr Handeln realisiert. Violet hat versagt. Fast fünf Jahre hatte sie ohne Drogen durchgehalten und glaubte, dass sie mittlerweile stark genug ist, dem Verlangen zu widerstehen. Scheinbar hat sie sich geirrt. Paralysiert sitzt sie auf dem Sofa und kann nur noch ins Wohnzimmer starren.
Als die Orkin nach Hause kommt sitzt Violet immer noch wie erstarrt da. Velma schaut zuerst besorgt ihre beste Freundin an, dann sieht sie die Spritze auf dem Tisch liegen und realisiert, was passiert ist.
Violet hört, wie Velma durch die Tür kommt und löst sich aus ihrer Starre. Die Menschin sieht die Orkin an und es sammeln sich die ersten Tränen in ihren Augen und sie schluchzt leise auf. Velma setzt sich zu Violet aufs Sofa und schaut sie mitfühlend an.
Da bricht es aus der Menschin heraus: „Es war einfach alles zu viel.“ sagt Violet mit brüchiger Stimme. „Die Gedanken wurden immer schlimmer und ich hielt es einfach nicht mehr aus.“
Velma nickt einfach nur verständnisvoll.
„Ich bin so ein Versager. So viele Jahre habe ich mich komplett von Drogen ferngehalten, damit ich nicht rückfällig werde und erst nehme ich das Kamikaze und nun das! Ich habe alles zunichte gemacht.“ sagt Violet verzweifelt.
Velma legt beruhigend ihre Hände auf Violets Schultern. Als die Orkin an den Cyberarms kommt, zuckt die Menschin kurz zusammen. Das Gefühl, am Arm berührt zu werden oder jemand anderen damit zu berühren, findet sie immer noch befremdlich.
Die Orkin schaut sie mit ihren grünen Augen an: „Du hast nicht alles ruiniert. Rückfälle passieren, sogar sehr häufig. Das waren für dich sehr harte Zeiten, die viel abverlangt haben. Da kann so ein Ausrutscher mal passieren.“
„Es hätte aber nicht passieren dürfen.“ sagt Violet betrübt.
„Ist es aber nun mal. Das können wir nicht mehr rückgängig machen, aber du kannst dafür sorgen, dass es nicht nochmal vorkommt.“ sagt die Orkin eindringlich.
„Aber was ist, wenn es nochmal vorkommt? Wenn ich nicht stark genug bin, dagegen anzukämpfen?“ Die Menschin schaut ihre Freundin verzweifelt an.
„Du bist stark. Sonst hättest du vorher nicht so lange durchgehalten. Doch etwas muss ja das starke Verlangen verursacht haben. Was war denn der Auslöser?“ fragt Velma.
„Es ist die ganze Situation hier! Ich würde so gerne wieder arbeiten, aber ich kann nicht, weil ich mit dem Arm noch nicht zurecht komme. Ich schaffe es ja nicht mal ordentliche Nähte zu machen. Das ist so frustrierend.“ schluchzt Violet.
„Es ist ein absoluter Drek, dass du nicht arbeiten kannst. Ich weiß du liebst deine Arbeit sehr. Doch es bringt nichts, alles schnell erzwingen zu wollen. Du würdest doch auch keinen Patienten drängen, so wie du es mit dir selbst machst, oder?“ fragt die Orkin ernst.
„Natürlich nicht.“ gibt Violet zu.
„Dann musst du mit dir selbst auch Geduld haben.“
Violet nickt zustimmend und Velma zieht die Menschin in eine sanfte Umarmung.
Gegenwart - 18.07.2078
Heute ist in Seattle einer der wenigen heißen Tage und langsam wird die Wärme unangenehm, weswegen sich Violet eine kurze Pause gönnt.
Der Tag war bis jetzt ziemlich ereignisreich. Relativ früh hat sie einem Runnerteam geholfen, ihre Wunden zu verarzten. Sie hatten Schusswunden und Brandverletzungen durch einen Feuermagier, wie sie erzählten. Bei einem Streetsam war es sehr knapp gewesen, denn er wurde von einer Granate erwischt. Zum Schluss konnten aber alle die Praxis lebend verlassen, nur den Streetsam ließ sie noch eine Weile zur Beobachtung da.
Danach kamen die üblichen Patienten mit kleineren Verletzungen oder typischen Krankheiten. Gegen Mittag ging sie zu einer ihrer Connections, um sich Medikamente zu besorgen.
Nachdem Violet alles verstaut hat, geht sie in ein kleines Zimmer, innerhalb ihrer Praxis, um was zu trinken und um sich bewusst Ruhe zu gönnen. Auch wenn es ihr nicht immer leicht fällt, sich einzugestehen, dass sie eine Pause braucht. Die Menschin weiß aber auch, dass, wenn sie sich überarbeitet, der Suchtdruck wieder stärker wird.
Der Rückfall blieb zwar nur bei einmalig, aber Violet merkt, dass das Verlangen, das über die Jahre fast gar nicht mehr da war, wieder vermehrt vorkommt. Doch sie kämpft tapfer dagegen an. Meistens lenkt sie sich in der Situation ab, wenn der Druck wieder stärker wird, was ihr auf der Arbeit meist ziemlich leicht fällt.
Nachdem Violet mit ihrem Cyberarm gut zurecht kam, konnte sie von ihrem Van aus wieder arbeiten, bis sie im Süden Tacomas ein Gebäude fand, was sie als Praxis verwenden konnte. Zudem schaffte sie es alte Connections zu erreichen und war schnell wieder voll dabei. Die Menschin musste nur anfangen zu lernen, sich nicht zu überarbeiten.
Das Denken ist aber seit ihrem Studium fest verankert, weswegen es ihr noch schwer fällt, sich zurückzunehmen. Doch mittlerweile macht sie eher mal Pause, wenn ihr Körper das braucht.
Nach der Pause arbeitet Violet noch bis zum frühen Abend. Neben einem Ancient mit einer Stichwunde kommt noch eine vertraute braunhaarige Menschin vorbei. Die ehemalige Runnerin wurde angeschossen und während Violet sie behandelt, gibt sie ihr die Zeit, dass sie über ihre Erkrankung berichten kann. Es hilft ihr mit jemandem darüber zu reden und Violet hilft es mehr über KFS zu erfahren, damit sie anderen möglicherweise helfen kann.
Später fährt die Menschin noch eine Runde durch Puyallup, bevor sie Feierabend macht. Glücklich macht Violet sich nach Hause, froh, wieder ihrer Leidenschaft nachgehen zu können.