Familienzusammenführung - Jazz und Chase

4.5.2077 - Butte Above - Butte Café Parisienne

Durch die Scheibe des Cafés sah Jazz bereits ihren Gesprächspartner im Innenraum sitzen. Cowboyhüte waren in Butte keine Seltenheit. Perfekt gepflegte Schnauzer allerdings schon.

Sie öffnete die Tür und das Läuten einer Glocke kündigte sie im Caféraum an. Der Cowboy drehte sich auf seinem Stuhl um und stand auf als er sah, dass seine Tischbegleitung eingetroffen war. Er drückte sie distanziert aber freundlich zur Begrüßung und nahm sich den Hut und ihr den Mantel ab. Jazz bedankte sich höflich und nahm platz als eine mittelmäßig motivierte junge orkische Kellnerin ihnen eine Karte anreichte.

Nach dem üblichen kurzen Smalltalk über das Wetter und wie sehr sich Butte doch von Cheyenne unterschied mit seinem schmutzigen und Anglo-geprägten Stadtbild, bestellten die beiden zwei Milchkaffee, Jazz einen Cookie und Chase ein Stück Apple-Pie. Als die Kellnerin kaugummikauend wieder verschwand, lehnte sich Chase entspannt auf seinem Stuhl zurück. “Ich hätte nicht gedacht, dass du meiner Einladung so schnell folgst. Runner kenne ich eher als sehr skeptisch. Und noch dazu hat…” er zögerte. “Hat Liam sicher nicht allzu positiv von mir gesprochen.” Kurz weiteten sich seine Pupillen. “Du… Du wusstest wie er heißt oder?”

Jazz lachte leise auf. “Naja, lange weiß ich es noch nicht, aber ja… mittlerweile wusste ich es dann doch schon.” Kurz dachte sie nach. “Und nein… sonderlich positiv hat er tatsächlich nicht geredet.”
“Wieso bist du dann hier?”
“Wie ich bereits in Pavillion gesagt habe… Holli… Liams Familie ist auch meine. Ich habe keine Familie in diesem Land. Geschweige denn auf diesem Kontinent. Und schon gar keine die sich ins Runnerleben einfühlen kann. Also… Ich lerne gerne neue Leute kennen.”
Ein anderer Kellner, ein um die 40 jähriger schlacksiger Elf mit Manbun stellte ihre Getränke vor ihnen ab und servierte das Essen.

Chase nahm mit einer kleinen Kuchengabel etwas von seinem klassischen gedeckten Apfelkuchen und verdeutlichte mit einem Blick an die Decke während er kaute, dass er sich das gesagte durch den Kopf gehen ließ. “Weiß er dass du hier bist?”

Jazz nickte. “Ich bin jemand der Kopf voran in Gegner springt. Er hat aufgegeben mir solche Kleinigkeiten auszureden.”
“Wie lange seid ihr jetzt schon ein Paar?”
“Im Juni ist es ein Jahr. War ein langes und verschmurbeltes hin und her. Wir kennen uns seit März 2069.”

Chase nickte langsam. “Ein Jahr ist in den Schatten eine ordentliche Distanz. Also war er all die Jahre tatsächlich wo? In Spanien? Du sprichst doch Catalan. Aber im Job war auch die Rede von Kuba? Dachte immer Mina sei vor ihm geflohen, nicht ihm gefolgt.”

Jazz schüttelte den Kopf. “Er war immer wieder da. Aber er war fest in Nordamerika. Kuba hat er genutzt wenn hier die Jobs zu heiß wurden. Ich… Ich glaube er wollte Kuba auch gerne für einen Ausstieg aus dem Runnerbusiness nutzen. Naja nicht so ganz. Aber auf Kuba sind Jobs anders als hier… Und es wäre für ihn ein sehr schönes Leben gewesen. Mit Mina und mit… seinen Freunden. Aber… Das hab ich ihm wohl ziemlich versaut.” Jazz rührte gedankenverloren in ihrem Kaffee. Die Worte die Holliday zu Laughs Too Much gesagt hatte waren ihr in den letzten Wochen selten vollständig aus dem Kopf verschwunden.
“Hab wenig Runner getroffen, die wirklich den Ausstieg geschafft haben. Aber warum seid ihr nicht einfach da geblieben?”

Jazz erläuterte in aller Kürze ihre Problematik mit Javier. Berichtete von ihrer Weltreise und ihrer Zeit in Boston, die sie um ein paar Monate vorverlegte.

Chase lächelte abwechselnd zurückhaltend oder nickte verständnisvoll. Wenn Holliday nicht in der Nähe war, schien er ein über alle Maße höflicher und zurückhaltender Gesprächspartner zu sein.

“War schlimm für seine Eltern als er von einem Tag auf den anderen verschwand. Und erst nach Monaten wieder auftauchte. Ausgespuckt von der Seattler Unterwelt und als gebrochener Elf. Mein Onkel… War ein recht strenger Mann. Hatte hohe Erwartungen an seinen von der Genetik mit allem gesegneten Sohn. Und dann wird der einfach wegrationalisiert und verdient sich sein Geld mit Geballer? Sie haben mich bestimmt 40 mal angerufen und gefragt ob ich da nicht was machen kann.”

Jazz lehnte sich nach vorn. “Was mich zu einer Frage bringt. Warum hast du ihm nicht geholfen? Du bist der Errant Knight. Du hast Kontakte in die Szene und Kontakte zu Ares. Warum hast du ihm nicht geholfen? Du hättest ihn vermutlich vor 10 Jahren Runnerdasein bewahren können.”

“Ich war damals gerade höher bei Knight Errant aufgestiegen und sollte meine Trideo Serie bekommen. Das letzte was ich mir leisten konnte, war ein Familienskandal. Noch dazu einer der mit den Schatten zu tun hatte. Das war nicht drin. Hey. Liam und ich waren nie beste Freunde, aber ich lasse meine Familie nicht einfach so verrotten. Ich war der erste der finanzielle Hilfe angeboten hat als seine Mom krank wurde und in Pflegeeinrichtungen musste. Und irgendwann war er so tief drin, dass ich ihn nicht mehr nachverfolgen konnte. Und dann auch anderes zu tun hatte als jemanden zu suchen der nicht gefunden werden möchte.”

Jazz nickte langsam und in kleinen Bewegungen. Dass ihr eine Person gegenüber saß die die Holliday all dieses Leid potentiell hätte ersparen können bewegte etwas in ihr. Sie hätte ihn nie kennengelernt aber wenn er ein besseres Leben gehabt hätte wäre es ihr das wert.

“Nochmal die gleichen Getränke?” Jazz schreckte aus ihren Gedanken hoch, als Chase bereits dem Kellner zugenickt hatte.
“Sag ihm das nicht, aber… Hat mich ein bisschen gefreut wie gut er in der Sache ist. Hätte nicht zu den Henrys gepasst halbe Sachen zu machen.” Chase lächelte als er sich ein bisschen Milchschaum aus dem Bart strich.

Jazz Gesichtsausdruck verfinsterte sich etwas als sie sich über den Tisch lehnte. “Er ist so gut, weil er so gut sein musste um zu überleben, Chase. Mittlerweile liebt er diesen Job und ist Runner mit Leib und Seele, aber das war nicht was ihn gut gemacht hat. Gut gemacht haben ihn ein Haufen echt übler Erlebnisse. Und viele viele gute Leute auf seinem Weg. Ich selbst habe so viel von ihm gelernt. Über das Leben in den Schatten, über mich als Runnerin… Aber - und das finde ich am wichtigsten - darüber wie man man selbst bleibt in den Schatten. Und nicht verliert wer man ist.” Bei ihrem letzten Satz schossen Jazz brennende Tränen in die Augen. Zu intensiv waren ihre Erinnerungen an ihre Wochen mit Holliday in seiner Wohnung in Seattle. Als sie ihm nachgefahren war um die Sache zwischen ihnen beiden final zu klären. Um dann zu erleben, dass sie der letzte Mensch war den Holliday da haben wollte und um ihm Schritt für Schritt dabei zuzusehen wie er seinen eigenen Körper an eine andere Persönlichkeit verlor.

“Er hat KFS, hm?” Der Cowboy sah sie stoisch an.
In einer schweigenden Pause wurden ihnen die neuerlichen Getränke angereicht und Jazz stürzte sich auf ihren Kaffee.

“Ich hab das Video damals gesehen. Wie er nackt vor dem Stuffershack rumgerannt ist. Nachts. Liam hasst Süßigkeiten. Hat er schon immer. Ich wusste, dass irgendwas nicht stimmt. Und jetzt? Er redet anders als früher… Ist weniger verbissen… Es ist subtil aber wir haben jede Ferien miteinander verbracht. Man kennt sich.” Über das Gesicht des Cowboys zog sich ein tiefes Bedauern. “Hatte mal eine Folge mit einem Nest KFS-Infizierter im Ork Untergrund. Sehr unschöne Geschichte. Wie weit ist es bei ihm?”

Jazz starrte zuerst auf die Tischdecke und dann an die Kaffeehausdecke. Dann nahm sie sich einen Ruck. “Er hat es nicht mehr. Er hatte KFS. Ein halbes Jahr lang.”

“Bullshit. Niemand hatte KFS. Es gibt keine Heilung.” Erneut sammelte sich Milchschaum im Schnurrbart des Mannes als er seinen halben Kaffee aufs Mal hinunterzog.

Jazz zuckte mit den Schultern. “Hat mich sehr viele Gefallen und eine aztlanische Blutmagierin gekostet. Ein ausgezeichnetes Team, ein Run, viele Nerven und ihn fast sein Leben. Aber… Er ist gecheckt. Keine Nanitenplattformen mehr, kein bekannter KFS Stamm in seinem Blut. Er ist gesund und munter. Kann jetzt Wuxing Mandarin und mag Süßigkeiten mehr als früher.”
Chase hob die Brauen. “Ne Blutmagierin?”
“Das richtige Leben in den Schatten hält viele Überraschungen für einen bereit.”

Chase ließ sich das gesagte einige Augenblicke durch den Kopf gehen. Dann ertönte hinter ihnen die Glocke der Café Tür und Jazz hörte Daisy flöten “Doch Holliday komm! Die Eclairs hier sollen der Wahnsinn… Ach guck mal, Jazz und Chase. Was ein Zufall!”.

Jazz war selbst schuld. Wenn man einen Job subtil erledigt haben wollen wollte, sollte man nicht Daisy fragen.

Chase hob eine Augenbraue und hielt mit dem Blick abwechselnd Jazz und ihre Gruppe hinter sich taxiert. Mara schob sich bereits etwas ungelenk an Jazz vorbei. “Hi! Ich bin Mara! Wir haben uns schon getroffen! Letzte Woche am…”
Chase stand auf und wandte sich seinem Cousin zu. “Sie will dass wir reden oder?”

Jazz drehte sich um und sah in den tadelnden Gesichtsausdruck den Holliday so gerne als GIF benutzte. Sie sank etwas in sich zusammen als Chase sich an ihr vorbei begab um ihr ihren Mantel anzureichen. “Na dann reden wir.” sagte der Cowboy seelenruhig, was Hollidays Gesichtsausdruck noch mehr zum entgleisen brachte.

“Hey, wenn ich in den letzten 1.5h was über die Seniorita gelernt habe, dann dass du zumindest einen ziemlich guten Frauengeschmack nach Mary entwickelt hast. Die war irre. Aber Jazz ist gut irre. Mal sehen, was ich sonst noch so über dich lerne.”

Er half Jazz in den Mantel und umarmte sie zum Abschied. Holliday stand weiter vor ihm als würde er nicht ganz verstehen, was hier vor sich ging. Chase deutete auf den Tisch. “Kaffee?”

Jazz machte einen Schritt auf Holliday zu und wechselte auf ihr DNI. “Er ist Familie Liam. Familie in den Schatten. Das ist ein Luxus den die wenigsten haben. Gib ihm bitte eine Chance.”

Holliday nickte langsam. “Na gut.” sagte er laut und drückte Jazz im vorbeigehen einen Kuss auf die Schläfe.

Als sie mit den Mädchen das Café verließ hörte sie ein schnippisches “Hast du eigentlich Bunnywunny noch?” von Chase und dass Holliday zum Glück schnaubend lachte.

Bevor Daisy sich umdrehen und nachfragen konnte was das war, schon Jazz die Mädchen durch die Tür. “Ich werde ihn fragen was das ist!” sagte Mara überschwänglich, während Daisy noch kurz die Scheibe des Kaffeehauses inspizierte. Jazz tat es ihr gleich und sah, dass die beiden Männer sich tatsächlich distanziert anlächelten.

Daisy nickte anerkennend. “Nächstes Ziel dann Weltfrieden? Oder willst du Lofwyr und den Drachenrat wieder brüderlich vereinen?”

Jazz lachte. “Ich dachte an größere Ziele. Wenn das hier klappt nehme ich mir Ben und Keziah mal vor.”

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Bei den Redetalent den Jazz hat, könnte ich mir sogar vorstellen, dass da eine Chance ist dass das klappt :grin:

Sehr schöne Fiction :blush:

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Danke! :relaxed:

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:heart_eyes: bin froh, dass ich mir die Zeit genommen habe und die nicht auf die Schnelle gelesen habe!

Sehr schön geschrieben, aber auch interessant umgesetzt, dass für die ganze Bravour Chase doch Aufmerksam ist :thinking::blush:

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