07.12.2076 - South Boston
Daisy atmet vor dem kleinen Wohnkomplex tief durch.
“Hier… hat sich ganz schön viel verändert.” Sie blickt auf die eingeschlagenen Fenster, die deutlichen Einschusslöcher, die verschiedenen Gangbeschmierungen an den Wänden.
Vor einigen Monaten war das hier “weiße Zone”. So nennen Ganger ein Gebiet, das nicht unter klarem Gang-Besitz steht und in dem sich alle herumtreiben können.
In ihnen trifft man sich für Absprachen und Informationsaustausch. In ihnen können Ganger verschiedener Gruppierungen entspannt zusammen ein Bier trinken.
Daisy hatte diese Ruhe gemocht.
Mara neben ihr nickt. “Hübsche Bemalung oder?” sie deutet auf ein ganz hübsches, indianisch angehauchtes Graffiti der Wicked. Oft einigen sich Gangs in weißen Zonen auf AR-Bemalungen die regelmäßig resettet werden. Man macht sich dann einen Spaß draus, als erster die Prime Spots abzubekommen.
Daisy zieht einen maximal altmodischen und ziemlich rostigen Metallschlüssel aus ihrer Tasche an dem ein großer und zerkratzer Gorilla Red Acrylanhänger baumelt. Dann fällt ihr auf, dass die untere Tür offen steht.
Die Mädchen schieben sich in den Flur und das Ausmaß der Verwüstung wird ihnen bewusst. Die Türen im Erdgeschoss sind herausgerissen. Blut oder irgendetwas, dass aussieht wie Blut klebt an den Wänden.
Auf einer schmalen abgewetzten Treppe kommt ihnen ein abgerissen aussehender Elf entgegen. Er nickt Daisy zu. “Morgen Dais. Schön dich auch mal wieder zu sehen. Bin froh um jeden den ich sehe der noch nen Puls hat.”
Daisy nickt zurück. “Hey Toby. Ja, alles fit bei mir. Übel getroffen hats euch hier hm? Was macht der alte Osprey?”
Sein Blick fällt hinter Daisy auf die größere Mara die sich im Flur umguckt. “Tot seit zwei Wochen. Wurde von nem Zombie gebissen und dann von einem von den rot-lila-schwarz-weißen erschossen.”
“Centurions hier in South B? Beschissene Zeiten.”
“Beschissene Zeiten.” Toby nickt den Mädchen nochmal zu und verlässt dann den Gebäudekomplex.
“Na komm”, sagt Daisy lächelnd, greift Maras Hand und zieht sie hinter sich die Treppe hoch in den 3. Stock. Entlang des dunklen Flurs hatte sich wenig verändert. Die Tapete schält sich von den Wänden, darunter kommen feuchte und schimmelgespickte Wände zum Vorschein. Irgendwo im Haus rumpelt es laut und ein Paar scheint sich zu streiten.
Die letzte Tür des Flurs ziert ein kleines Plastikschild auf dem D.M. steht.
Daisy drückt ihren Schlüssel in das Schloss und die Tür springt auf.
Sie bleibt kurz vor der Tür stehen. “Du Mara… Da drin ist es wirklich… Naja… eher nicht so hübsch. Ok?” fragt sie zögerlich.
“Daisy, ich bin Grunge Star - ich bin Chaos gewohnt! Na los ich will sehen was du für coole Sachen hast!” Seit Keziah wieder da ist sieht sie frischer aus, rosiger, etwas gekämmter und gesünder.
Daisy nickt zurückhaltend und öffnet die Tür.
In der kleinen Wohnung ist es eiskalt. Eines der Fenster ist wohl eingeschlagen worden.
Vor ihm liegt ein winziger Teppich aus Schnee und viel Feuchtigkeit.
Mara betritt die Wohnung und sieht sich um. Jede Fläche auf der Platz ist, ist vollgestellt mit mechanischen Einzelteilen, Schrauben, Werkzeug, Drohnen, Drohnenzubehör oder Kabeltrommeln.
Wie von Daisy angekündigt stehen in dem einzelnen Raum der Küche, Wohn- und Schlafzimmer miteinander in sich vereint, noch einige fertige Umzugskartons.
Über dem Bett und in der gesamten Wohnung verteilt kleben unzählige noch auf Synth-Papier gedruckte Poster. Mara entdeckt eine Sammeltasse die Keziah zu ihrem ersten Album veröffentlicht hatte. Ein großer Umzugskarton ist mit “Bandshirts GR 2073-76” beschriftet.
“Ist nicht so schön hier… Ich weiß…” Daisy dreht sich verstohlen im Raum um. “Aber… Das ist die erste feste Wohnung die ich je hatte… Sonst war ich immer unterwegs. In Motels, in Garagen, in Lagerhallen, vor Konzerthallen. Ich kann eigentlich überall schlafen. Was ich nicht kann ist viel Miete zahlen… Mit dem alten Osprey hatte ich den Deal ich kriege die Wohnung etwas billiger und halte ihm dafür die Gangs vom Hals wo ich nur kann. Das da…” Sie zeigt auf das durchgelegene angebrochene Bettgestell in der Ecke des Raumes. “Das ist das erste und einzige Möbelstück, dass jemals mir gehört hat. Alles andere war schon da.” Sie schluckt.
“Na dann haben wir schon weniger zu schleppen!” Die Elfe grinst und macht einen Schritt auf eine kleine Kommode zu auf der drei Bilderrahmen stehen.
Daisy läuft ihr nach. “Ganz rechts bin ich mit meinen Eltern. Ich war so 8 und wir waren im Shiawase Land. Das war…” Daisy schüttelt den Kopf “Ultra Cool. Wir mussten sonst immer aufpassen, keinem Kon zu nahe zu kommen, aber sie hatten einen Job für Shiawase gemacht und die hatten ihnen den Eintritt geschenkt.” Das Bild auf dem zwei hochgewachsene Elfen ein im Vergleich eher pummliges Menschen-Kind hochhalten wirkt ulkig. Die Winkekatzen-Hüte machen das nicht besser. Mara grinst. Sie mustert Daisys Eltern. Sie erkennt die Jacke der Mutter die Daisy selbst oft trägt. “Deine Mom war heiß!” Mara lacht. “Was für einen geschnitzten Holzstab hat dein Dad denn da am Gürtel?”
“Warte den hab ich…” Daisy öffnet wahllos Schubladen an der Küche “Sorry ich bin ultra unordentlich in dieser Wohnung. Ah. Hier!” Sie zieht einen ca. 20cm langen mit fein gearbeiteten Schnitzereien verzierten Stab hervor.
“Ich werd nicht lügen, ich dachte zuerst dein Dad war so krass und hatte nen Dildo dabei aber… Das Ding…”
“Sieht wunderschön aus auf der Astralebene hm?” Daisy kratzt sich am Kopf. “Ja das sagen immer alle. Die erwachten Jungs von den Crimson Crush meinen es wurde viel schwächer seit er tot ist. Er war Raben-Schamane. Das Ding war sein Fokus… Raben sind wohl irgendwie krass schlau und geschickt. Versuchen immer das meiste rauszuholen.” Sie packt den Stab in eine der Kisten.
“Das da…” Sie greift das zweite Bild auf der Kommode. Eine Drohnenaufnahme vieler Orks und Trolle von weit oben. “Sind die Jungs die mich aufgezogen haben. Es gibt super viele Crimson Crush. Die sind aus der Nacht des Zorns hervorgegangen. Wir sind zwar so die Good Guys im Ganggefüge, aber den Humanis Arschlöchern und ihren Gangs gegenüber sind wir schon auch übel… Gang bleibt Gang denke ich. Das war der Geburtstag von Slow-Jim. Der ist eine Legende bei uns. Deshalb waren so viele da.”
Mara mustert das Bild der vielen Orcs und Trolle mit vielen auf hochglanz polierten Motorrädern bis Daisy es zusammen mit dem ihrer Eltern wegpackt. Das letzte Bild nimmt Mara in die Hand.
Darauf ist ein bulliger Troll mit langen gewundenen Hörnern. An seinem Hals ist das typische rote Halstuch mit Crimson Crush Logo. Ein langer dunkler Bart rahmt sein Gesicht ein. An seinem Hals hängt die neben ihm winzig wirkende Daisy grinsend. Sie hängt an ihm wie an einer Spielstange auf einem Spielplatz.
“Das ist Rocking Rudy… Er ist so meine größte Bezugsperson außer Sunny und… dir. Er war immer da wenn irgendwas mit mir war. Er hat mir mein erstes Motorrad geschenkt. Normalerweise erbt man eins von einem anderen Crimson Crush, aber guck dir mich mal auf einem Troll-Motorrad an. Das geht gar nicht.” Sie lacht. “Er war sogar mal mit auf einem Konzert von dir in Seattle! Er wollte sehen wem ich so hinterherjage.”
“Dann ist er deine Keziah?” Maras Brauen ziehen sich etwas zusammen als sie weiter den Mann mustert.
“So in etwa. Sehr viel herzlicher und nahbarer. Also so für alle. Er kocht für alle, er organisiert Ausflüge, er schlichtet Streit. Er passt aufs Gamblers Haven auf. Aber verrate das nicht den anderen! Wenn Ben Mist verzapft soll er nicht einfach wissen bei wem er fragen muss. Dafür mittelloser. Wir Crimson Crush teilen alles sehr fair in der Kerngruppe. Deshalb bleibt für alle immer nur wenig übrig.” Sie sieht sich wieder in der kleinen zugeramschten Wohnung um.
Mara mustert die Menschin. “Daisy… Schämst du dich? Wolltest du deshalb… nie hier her?”
Daisy presst kurz die Lippen aufeinander. “Naja du und Keziah… Und Sunny… Und Jazz und Holliday… Ihr habt es alle viel schöner. Und hier ist es eben… Dreckig und schlampig und klein.”
“Und?” fragt Mara mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen. “Du bist doch auch dreckig und schlampig und klein!” Sie küsst Daisy kurz. “ Außerdem… Ohne Keziah ginge es mir viel beschissener. Ich wüsste nichtmal wie ich es so weit hätte bringen sollen! Du hast alles hier alleine geschafft! Das ist doch beeindruckend! Vor allem weil…” Sie deutet auf eine Schallplatte in einem Bilderrahmen an der Wand. “Wollte Keziah für die Dinger nicht 500 Nuyen?!”
Daisy zuckt mit den Schultern und blickt zu der Elfe hinauf. “Ich find dich eben mehr als 500 Nuyen toll.”
Die beiden jungen Frauen umarmen sich. “Du musst dich nie für was vor mir schämen ok? Egal mit was du um die Ecke kommst… Es kann nicht so schlimm sein wie mein Paket.” Mara lehnt den Kopf gegen den der Menschin. “Kannibalismus ist schwer zu schlagen. Hm. Daraus kann man vielleicht nen guten Song machen.”
Maras Blick fällt auf einen weiteren Bilderrahmen, in einem kleinen Regal, dessen beste Zeiten schon sehr lange vorbei waren. Daisy und eine andere Menschin umarmen sich darauf sehr innig auf der Kühlerhaube von Daisys Auto.
Daisy lässt Mara langsam los und folgt ihrem Blick. Auch diesen Bilderrahmen nimmt Daisy aus der Wand. Die andere Menschin ist ziemlich trainiert. Ihre kurzen dunkelbraunen Haare rahmen ihr Gesicht fest ein. Sie trägt ein lockeres Karohemd das mit einem Werkzeuggürtel befestigt an ihrer Hüfte hängt.
“Das ist Simone.” sagt Daisy ruhig. “Wir waren… Lange… ich glaube 5 Jahre… ein Paar. Sie ist vor 3 Jahren bei einem Autorennen gestorben. Sie war keine Riggerin und meinte Nachts bei einem illegalen Straßenrennen einem Rigger beweisen zu wollen, dass sie es genauso drauf hat. Der Rigger konnte ausweichen… Sie nicht.” Daisy atmet schwer. “Sie lag dann eine Weile im Koma. Irgendwann… Sie wäre nicht wieder aufgewacht.”
Mara umarmt sie erneut. “Tut mir furchtbar leid. Das muss sehr schlimm gewesen sein. Dir… Dir kann das auch passieren? Mit Straßenrennen oder?”
“Rigger sind für waghalsige Manöver da. Unfälle gibt es immer wieder. Aber mir ist kein Sieg und niemandem etwas beweisen zu wollen wichtiger, als mein Leben.”
Mara nickt langsam. “Willst du das wieder machen? Wenn wir hier draußen sind? Du kommst doch jetzt mit raus oder? Du stehst auf der Liste!”
Daisy beginnt einige umliegende Gegenstände in Kisten zu stopfen. Ihre Klamotten waren bei Sunny und Jazz verstreut und wurden zusammengesammelt wenn es wichtig wurde.
“Ja… Ja ich will raus. Ich muss wieder von vorne anfangen aber… Das ist doch witzig oder? Zumindest versuche ich es mir schön zu reden. Ich kann viel ausprobieren und irgendwo finde ich schon Arbeit.” Sie beginnt ihre mechanischen Komponenten zu sortieren und zu verräumen.
“Zum Beispiel als Tourtechnikerin bei Keziah…? Und mir…?” Mara steht bedröppelt im Raum wie ein Welpe der auf ein Leckerli wartet.
“Wir… Haben doch nicht mal geklärt ob wir da draußen… Naja… noch… Das… wir… Wir waren doch… Das war doch nur…”
“Meine Güte Daisy, du klingst wie ich wenn ich mit Holliday Scrabble lege und er Wörter mit mehr als 6 Buchstaben zaubert. Ja unser Deal was bis jetzt zwanglos während des Lockdowns. Exklusive Sexfreunde. Lockdown Lovers. Aber… Das war doch schön oder?”
Daisy nickt. “Auf jeden Fall. Aber da draußen. Mara da bist du nicht mehr nur meine Mara. Da bist du Rockstar. Da himmeln dich tausende Leute an. Da hast du Freunde und Bandmitglieder und ein Leben. Und ich… ich wäre wenn ich mit euch gehe total von euch abhängig. Und ich war noch nie von irgendwas abhängig…”
“Aber du hast doch da draußen nicht nur mich. Du hast auch Sunny und Jazz und Holliday und Nayad und… Alle! Außer Joker, der wirkt als hätte er gerne seine Ruhe wenn er mal hier raus ist. Und mir sind tausende Menschen ziemlich egal wenn ich dafür… Daisy ich fühle mich mit dir zum ersten Mal seit 3 Jahren wieder als Mensch. Als wäre irgendwas in meinem Leben normal. Als wäre ich normal. Und deshalb… Ich hätte eigentlich gerne mehr als exklusive Sexfreunde. Ich… Ich wär gerne deine Freundin. Aber das geht irgendwie nur gut wenn du diese sture Bockigkeit ablegst und mit mir mitkommst! Oder ich mit dir. Die ersten Wochen will Keziah doch eh Geschäftliches machen! Wir können nach Seattle und Joe-Slim treffen!” - “Slow-Jim” wirft Daisy ein - “Oder nach Havanna und Hollidays Schwester nerven! Ich brauch dann zwar ne gute Sonnencreme und kann nur Nachts raus aber… Das ist mir lieber als nicht bei dir zu sein. Und an Nayads Van schrauben kannst du doch auch überall! Außerdem… Weißt du wie verflucht viel Geld du sparst, wenn du nicht dauernd Tickets für die Touren kaufen musst? Ist das die ‘Mara Limited Edition Wackelkopf-Figur’ ?! Ich hätte echt nicht gedacht dass die wirklich irgendjemand kauft!”
“Ich hab auch Poppy und Thorabass dazu.” murmelt Daisy lächelnd.
“Du hast mir doch den Van extra so schön gemacht! Ich kann nicht das alleinige Aufsichtsrecht für Goldie haben! Der stirbt mir doch nur! Er braucht seine zweite Mama! OMG die Schneekugel mit dem Gorilla drin! Davon hab nicht mal ich eine bekommen!!”
Daisy stellt sich neben sie an das Regal mit den schönsten Merch-Stücken.
“Nimm sie. Wir haben doch ganz eigene Probleme…” murmelt sie erneut.
Maras Stimmung verfinstert sich etwas. Sie schaut vor sich auf den Boden und nickt langsam.
“Naja…” ergreift Daisy erneut das Wort. “Ich denke zumindest dass es viele psychologische Bücher drüber gibt, dass man nicht den ganzen Schrank voll mit Merch seiner Freundin haben sollte.” Daisy taxiert sie ruhig mit ihren Augen.
Anders als erwartet quietscht die Elfe nicht auf vor Freude. Ihr Blick richtet sich von dem Boden erneut hoch zu Daisy. Ihre Augen füllen sich mit dicken Tränen und Mara fällt ihr in die Arme. Daisy zieht sie rüber zu dem unangenehm feuchten und kalten Bett und lässt die beiden darauf Fallen.
Nach ein paar schluchzern der Erleichterung murmelt Mara: “Mach mir nie wieder so Angst du Bitch.”
“Selber Bitch.” grummelt Daisy lächelnd gegen ihren Hinterkopf.
Ein paar Sekunden sitzen die beiden nur so da, dann beginnt das Bett laut zu krachen und zu knacken und sie brechen durch den Lattenrost.
Sobald sie verstanden haben was passiert ist lachen sie prustend los und Mara springt auf. Sie reicht Daisy die Hand und zieht sie auf die Füße. “Fuck du musst unbedingt aus dieser Wohnung raus.” sagt sie lachend.
“Wir sollten echt packen und weg hier.” Daisy schüttelt den Kopf und beginnt einen der gefalteten Umzugskartons aufzuschlagen.
Mara nickt langsam und scannt die Wände ab.
“Jep. Jep, jep jep. Schnell. Ich glaube ich bin nicht mal der einzige Schnitter im Gebäude.”
“Ja… Ich fand schon immer Roger hat keine gesunde Hautfarbe…”
Ich mag besonders den Shiawaseland part und die Fotos an der Wand. 
Sehr gelungen die Fiction!