Ein Blick in den Spiegel - Shadex

04.11.2076 - Arlington Heights -Somerville - gegen 14 Uhr

Trotz Nayad’s Predigt, dass niemand alleine unterwegs sein sollte, musste sie das hier alleine machen. Außer Finlay und seiner Familie wusste niemand etwas von diesem Geheimnis und das sollte vorerst auch so bleiben. Sie hatte Angst von den anderen dafür verurteilt zu werden was sie getan hatte. Für sie war es vor 5 Jahren jedoch der einzige Ausweg gewesen.

Der Weg nach Arlington Heights verlief erstaunlich ruhig und ereignislos, was in der momentanen Situation schon fast ein Wunder war.
Am vereinbarten Treffpunkt wartete bereits Finlay O’Connor, lässig an sein Auto gelehnt. Der Ende 40-jährige war genau so, wie man sich einen Iren hier in Boston vorstellte. Als sie sich ihm näherte, stieß er sich vom Auto ab und lächelte sein, ihm typisches, warmes Lächeln. Wenn man ihn so sah, dann ahnte man nicht, dass er ein knallharter Waffenhändler war. Er war in ganz Boston gut vernetzt und vor allem bei den O’Rilleys genoss er großes Ansehen, obwohl er selbst kein Mitglied war.

“Dia duit mo chailleach bheag scáth”, begrüßte er sie auf Gälisch mit dem Kosenamen, den er ihr vor Jahren gegeben hatte. Shadex war schlecht, ihr Magen fühlte sich an, als ob er im Schleudergang laufen würde. “Dia duit Fin”, hauchte sie fast etwas zu leise.
Er sah sie besorgt an, auch wenn er fast noch etwas zu jung dafür war, war Finlay das, was einem Vater für sie wohl am nähesten kam. Sie betonte zwar stets, dass sie keine Eltern hatte, aber Finlay sah sie, neben seinen eigenen Kindern, auf gewisse Art trotzdem wie eine Tochter.
“Du musst das hier nicht machen, das weißt du oder? Jeder in meiner Familie respektiert deine Entscheidung”
“Doch ich muss. Wenigstens einmal.”
“Es ist einzig und allein deine Entscheidung, du solltest dich von nichts und niemandem dazu gedrängt fühlen.”
“Tue ich nicht, aber je öfter die anderen, mit denen ich arbeite, das Thema erwähnt haben, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass ich eine schreckliche Person bin. Ich…”, sie wusste nicht, wie genau sie ihre Gefühle in Worte fassen sollte.
“Bist du nicht, du warst nicht bereit dazu. Du hast so viel schlimmes erlebt, da ist das doch nicht verwunderlich.”
“Ja, das sagst du, aber das sieht bestimmt nicht jeder so und Jeremy…ich weiß nicht wie er…”
“Also was Jeremy angeht, dass musst du mir ohnehin nochmal erklären. Du hast ihn gehasst und jetzt?”
Shadex lächelte über die offensichtliche Verwirrtheit ihres Gegenübers. Finlay kannte ihre Geschichte zum größten Teil und wusste auch über Jeremy Bescheid. Da war es nicht verwunderlich, dass es für ihn im ersten Moment befremdlich wirkte. Sie selbst war doch anfangs genauso verwirrt gewesen.
“Ich würde mal sagen, es ist kompliziert, aber bei Gelegenheit erzähle ich dir, was auf Kuba passiert ist.”
“Da bestehe ich drauf”, erwiderte er lachend: “Aber lass uns hineingehen, die anderen warten schon auf uns.”
Shadex Magen, der sich für kurze Zeit beruhigt hatte, drehte sich nun wieder wie zuvor.
“Fin? Bevor ich’s vergesse, ich weiß, dass du hier Gott und die Welt kennst, kannst du mir vielleicht mit ein paar Informationen weiterhelfen?”
“Kommt ganz darauf worum es geht. Sollte ich dazu etwas wissen, dann helfe ich dir gerne weiter. Wahrscheinlich will ich gar nicht wissen, in welche Schwierigkeiten du und deine Leute sich jetzt wieder manövrieren, oder?”
Shadex konnte sich ein kleines aber schiefes Lächeln nicht verkneifen: “Nein, wahrscheinlich ist es besser, wenn du es nicht so genau weißt. Was ich dir sagen kann ist, dass wir uns mit einem Ausweg für diese Situation beschäftigen. Mehr kann ich dir leider auch nicht verraten.”
“Na gut, wir reden später in Ruhe darüber, jetzt sollten wir wirklich rein, bevor wir Ärger bekommen”, zwinkerte er ihr fröhlich zu. Sie wusste, dass er ihr mit seiner positiven Art Mut machen wollte. Bis zu einem gewissen Grad funktionierte das auch, aber sie war trotzdem nervöser als vor einem Run.

Die beiden betraten das kleine Häuschen, das Finlay’s Sohn mit seiner Familie bewohnte. Drinnen wurden sie bereits von dem etwas jüngeren Menschen und seiner Frau erwartet. Die beiden begrüßen ihre Gäste herzlich und trotz der schwierigen Situation, die in Boston herrschte, wirkte die Szene wirklich glücklich und familiär. Als die kleine Gruppe zusammen ins Wohnzimmer schritt und Shadex die beiden Kinder der Familie entdeckte, blieb sie wie versteinert im Türrahmen stehen. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und verspürte den Drang, wegzulaufen. Wenn man ihr ins Gesicht sah, dann musste man dort wahrscheinlich sehen, dass sie noch bleicher war als sonst, da ihr wirklich schlecht war.
Das kleine ca. 5-jährige Mädchen, das zusammen mit seinem kleinen Brüderchen gespielt hatte, lief auf Finlay zu und umarmte ihn herzlich. Dann sah sie Shadex in der Türe stehen.
“Du Opa? Wer ist die Frau da?”
Finlay sah sie wieder etwas besorgt und fragend an. Shadex nickte nur ein kleines bisschen und gab ihm damit zu verstehen, dass sie in Ordnung war und trotz allem nicht gleich zusammenklappen würde.
“Das, mein kleiner Engel, ist deine Tante Aurelia.”
Das Mädchen lachte fröhlich und lief dann auf Shadex zu und schlang ihre kleinen Ärmchen um die viel größere Elfe.
“Schön das du da bist Tante”, sie packte Shadex’ Hand und zog sie, obwohl sie deutlich schwächer war, hinter sich her: “Komm wir spielen zusammen.”
Die Kleine setzte sich wieder in die Spielecke zu ihrem kleinen Bruder und als Shadex keine Anstalten machte, sich dazu zu setzen, blickte sie die Elfe fragend an.
“Warum weinst du denn, Tante?” Shadex, die selbst nicht bemerkt hatte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen, war komplett überfordert mit ihren Gefühlen und der ganzen Situation.
Mit ihr fremden Leuten zusammen einen Job erledigen und auf sich schießen lassen, kein Problem. Gegen böse Geister kämpfen, die ein Portal öffnen möchten, um noch mehr ihrer Art auf die Welt zu holen, kein Problem. Mit dem kleinen Mädchen einfach nur zu spielen, überforderte sie maßlos.
“Ich glaube deiner Tante geht es nicht so gut, sie braucht ein bisschen frische Luft, ich verspreche dir, dass ich später mit dir spiele, aber du musst noch etwas Geduld haben.”
“Ok Opa, aber dann spielen wir auch mein Lieblingsspiel, versprochen?”
“Aber natürlich Prinzessin.”
Finlay war neben Shadex getreten, legte ihr eine Hand auf den Rücken und führte sie zurück an die frische Luft. “Die ganze Sache war wohl doch keine so gute Idee.”
Zittrig setzte sich Shadex auf die Stufen der Veranda und atmete erst einmal tief durch bevor sich schluchzend erwiderte: “Sie…sie…sieht genauso aus wie ich.”
Finlay setzte sich neben sie: “Ja, sie sieht dir wirklich sehr ähnlich, sie hat deine Augen und auch ihre Haare haben eine ähnliche Farbe wie deine. Das gerade war zu viel für dich, du solltest dir erstmal Zeit lassen. Wie gesagt, sie verstehen es. Komm, ich fahr dich heim.”

04.11.2076 - Newton - Waltham - verlassenes Nachbarhaus - ca. 23 Uhr

“Du erfrierst hier oben noch, es ist arschkalt und du hast noch nicht einmal eine richtige Jacke an. Du zitterst ja richtig.” Shadex hatte die Kälte gar nicht richtig mitbekommen, genauso wenig wie die Tatsache, dass sie bereits seit Stunden vor sich hin starrte.
“Was ist los mit dir? Seit du wieder da bist hast du keine 5 Worte gesprochen und hast dich hier zurückgezogen. Ist etwas mit deinen Leuten?”
Ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals, aber sie konnte Jeremy gerade nicht sagen, was los war: “Nein, mit ihnen ist alles in Ordnung. Sind nur gerade mit den Vorbereitungen auf einen recht üblen Run beschäftigt. Bevor du fragst, nein, ich begleite sie nicht. Ich…ich wollte nur etwas nachdenken.”
“Mhm und deshalb frierst du dich hier zu Tode, also ganz blöd bin ich auch nicht.”
“Es ist nichts, ich mache mir einfach Sorgen.”
“Deine Sorgen stehen dir deutlich ins Gesicht geschrieben. Pass auf, dass du keine Sorgenfalten bekommst.” Beim letzten Satz musste er etwas lachen, zog Shadex aber in seine Arme und küsste sie sanft. “Lass uns reingehen, dann mach ich dir einen Tee während du dir eine heiße Dusche gönnst. Danach können wir uns ja noch einen Film oder so angucken, das lenkt dich vielleicht etwas ab.”

Jeremy war bereits eingeschlafen, doch Shadex Gedanken wanderten immer wieder zu dem Treffen. Sie konnte nicht schlafen, was eigentlich nicht neu war, da sie auch sonst Phasen hatte, in denen sie so gut wie gar nicht schlafen konnte, aber diese waren in letzter Zeit weniger geworden. Frustriert wand sie sich von einer Seite zur anderen, als sie plötzlich eine Hand an ihrer Schulter spürte.
“Ich wollte dich nicht wecken”
“Schon gut, hast du nicht, aber sag mir doch bitte was los ist, ich merk doch das etwas nicht stimmt.”
“Es geht nicht, ich…”, frustriert sprang sie aus dem Bett und stellte sich ans Fenster.
“Red doch mit mir. Du weißt, dass du mit mir über alles sprechen kannst.” Jeremy war ihr gefolgt.
“Ich…ich will nicht so sein wie sie”, wieder kullerten Tränen über ihre Wangen.
“Wie wer? Ich versteh nicht ganz was du meinst.”
“Meine Eltern…”, flüsterte sie mit hängendem Kopf.
“Was lässt dich denken du wärst wie sie?”
“Ich…ach verdammt, ich kann es dir sowieso nicht verheimlichen. Ich habe eine Tochter…Kiana. Sie ist 5 Jahre, so alt wie ich damals, als meine Eltern…Ich habe sie auch weg gegeben. Sie…sie lebt bei Finlays Sohn, er hat sie sozusagen adoptiert. Ich habe sie heute das erste Mal wiedergesehen.”
“Und jetzt denkst du, du wärst wie deine Eltern?” Shadex sah beschämt zu Boden und nickte leicht. Jeremy führte seine Hand unter ihr Kinn und hob dieses an, damit sie ihm in die Augen sehen musste: “Hör auf so über dich zu denken, du bist nicht annähernd wie deine Eltern, nur weil du dich nicht bereit gefühlt hast, ein Kind großzuziehen. Du hast sie in gute Hände gegeben, du hast sie an Leute gegeben, die sie beschützen und die für sie sorgen. Du hattest Angst, dass ich dich verurteilen würde, oder?” Sie schlug ihre Augen nieder und nickte abermals leicht. Jeremy zog sie in seine Arme und strich ihr sanft über den Rücken: “Ach Lia, ich würde dich nie für so etwas verurteilen. Ich weiß, durch was für eine Scheiße du gegangen bist, du hattest deine Gründe. Wir alle haben in unserem Leben Dinge getan, die wir zutiefst bereuen. Du kennst genug Dinge, die ich bereue. Wie könnte ich dich bei all dem Mist, den ich gemacht habe, dafür verurteilen, dass du ein Kind zu liebevollen Eltern gegeben hast.” Das Schluchzen an Jeremys Brust wurde lauter und der Körper in seinen Armen presste sich nun ganz fest an ihn. “Ich liebe dich und daran wird sich deshalb nichts ändern. Jetzt komm wieder ins Bett und schlaf erstmal ein wenig. Wir können morgen weiter darüber reden.”
Mit belegter und etwas brüchiger Stimme erwiderte Shadex: “Ich liebe dich auch.”
Arm in Arm schliefen die beiden dann schlussendlich doch noch ein.

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Ach jeeee :sob: :sob: Die arme Shadex :cry:

Sehr schöne Fiction :blush:

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Ja…kann ja auch nicht nur alles gut sein :woman_shrugging:

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Hab ich auch nie gedacht :smirk: Drama ist wichtig :point_up:

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Eben, auch wenn ich noch nicht genau weiß wo das hin führt aber ja sie hat da wohl bisschen was verheimlicht

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Kommt dann bestimmt mit der Zeit :blush: man kann das nicht wirklich planen :sweat_smile:

Wer macht das nicht? :smirk:

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Das war auch nicht geplant, sindern eher spontan :joy:

Ja gut das tun alle :joy:

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