Die fünf Tunichtgute - Lex

Einige Wochen vor dem Run im Dante’s Inferno, Nachmittag

„Okay, jetzt versuchs mal mit mehreren.“ Lex beobachtete, wie das junge Orkmädchen vor ihr tief durchatmete und ihren Blick auf die vor ihr liegenden Soyriegel fokussierte. Eine zitternde Handbewegung später schwebten die Riegel für ein paar Sekunden, bevor die Hand erschöpft auf den Tisch sank und die junge Orkin sich erschöpft zurücklehnte. „Ich kann nicht mehr, Tante Miri.“

Lex klaubte alle bis auf einen Riegel zusammen,welchen sie ihr zuschob. „Dann lassen wir das für heute. Du hast sowieso noch Hausaufgaben zu machen, Mary.“

Es war wieder ein regnerischer Nachmittag in Seattle und Lex tat das, was sie in letzter Zeit meistens machte, wenn sie nicht den Gamblers Haven besuchte und Caleb bei Knight Errant’s IT wieder einmal eine Spätschicht machen musste: Zusehen, dass seine Kinder in seiner Abwesenheit nach der Schule nicht die Wohnung in Schutt und Asche legten. Was dadurch erschwert wurde, dass es fünf Orkkinder waren (Fünflinge waren nicht unüblich bei Orks und Trollen), die zusätzlich zu normalem Teenagerverhalten noch Probleme hatten, ihre erwachten Fähigkeiten zu kontrollieren. Lex konnte es den vielen bisherigen (und geflüchteten) Sittern nicht verübeln, dass sie danach Calebs Nummer blockten.

Gerade war sie damit beschäftigt, mit Mary, der (um 15 Minuten) jüngsten der fünf, Levitationszauber zu üben. Sie zeigte zwar besonders viel Talent für Feuermagie, aber aus versicherungstechnischen Gründen hatten Caleb und Lex vereinbart, dass zum Üben Telekinese besser geeignet war. Während Lex darin vertieft war, Mary Kontrolltechniken zu erklären, kletterte ein Schemen hinter ihr leise an Wand und Decke in Richtung des einen Ziels, das sie tagtäglich gegen die fünf verteidigen musste: Das Eisfach (heute gefüllt mit: Himbeereissandwiches).

Als der Schemen nach erfolgreichem Beutezug mit zwei pinken Packungen an der Decke über dem Tisch zurückkletterte, wurde die Stille plötzlich durch das Klingeln der Tür unterbrochen, was den Schemen so erschreckte, dass er den Halt verlor. Nach einem kurzen Aufschrei öffnete Anne, die zweitälteste der fünf, langsam wieder die Augen, als sie nicht den erwarteten Aufprall auf dem Tisch spürte, und drehte den Kopf zur Seite.

Sie schaute direkt in die amüsierten Augen ihrer De-facto-Tante, auf deren Kopfhöhe sie über dem Tisch schwebte (wenige Millimeter über der Oberfläche).

“Immer noch zu laut geschlichen, junge Dame.” Mit diesen Worten schnappte sich Lex das Eissandwich in Annes linker Hand, ließ den Zauber (und die junge Orkin) fallen und ging in Richtung Tür. Mary rief “Ist wahrscheinlich Phil, der musste mal wieder nachsitzen” hinterher, schaute Lex verstohlen nach und schnappte sich dann das Sandwich aus Annes rechter Hand, als diese auf dem Tisch aufprallte.

Vor der Tür stand eine Lex bekannte und wie üblich ramponierte Gestalt. Selbst für einen Ork war Philip Anderson groß und breit gebaut, aber selbst für einen Ork geriet er übermäßig leicht in Rage.

Sie stemmte die Hände an die Hüften. “Und, was war es diesmal?”

Der große Orkjunge scharrte verlegen vor ihr mit den Schuhen auf dem Boden. “Jim Kelly hat sich über Dad lustig gemacht. Dann hab ich ihn so lange in Mülltonnen geworfen, bis seine Kumpels kamen. Was kann ich denn dafür, dass an meiner Schule so viele Humanis-Kinder sind?” Er sah das pinke Sandwich in ihrer Hand. “Nice, Wundtrostsandwich.”

Sie drehte sich um und ging zurück in die Küche. “Das gibt es erst, wenn du mal nicht erwischt wirst und nachsitzen musst, junger Mann. Dreimal Rassisten in die Tonne werfen und abhauen reicht auch. Anne muss dir mal beibringen, nicht mehr da zu sein. Speaking of which…”

Sie blieb vor dem Tisch stehen, auf dem immer noch Anne lag und mit verschränkten Armen schmollte, während Mary neben ihr genüsslich Eis futterte. “Kusch. Das Medkit muss da hin, Big Boy hat Aua.” Anne rollte langsam mit noch immer verschränkten Armen vom Tisch auf die gepolsterte Bank daneben, während Lex das Sandwich zurück in den Kühlschrank packte und Calebs Knight-Errant-Surplus Medkit auf dem Tisch ausbreitete.


Nachdem Philip verarztet war, ertönten laute Stimmen aus dem Nebenzimmer und ein neben Philip schmächtiger Orkjunge stapfte mit einer Spinnendrohne und einem Kommlink in der Hand in die Küche.

“Miri, Tina sabotiert schon wieder meine neuen Drohnen! Mein Kommlink wird die ganze Zeit überlastet und sie versucht dauernd, die Drohnen weglaufen zu lassen!”

Lex schaute auf die Drohne in seiner Hand. Sie hatte vor einigen Tagen Stinger, einen ihrer Runnerkollegen, gefragt, ob er einige alte Drohnen für Simon abzugeben hätte, woraufhin er ihr einige Prototypen gegeben hatte. Sie verstand nicht, warum er nur Insektendrohnen besaß, aber beschwerte sich nicht.

Dann schaute sie auffordernd die Gestalt an, die hinter ihm im Türrahmen erschien und schief grinste.

“Ich würde das nicht unbedingt ‘Sabotage’ nennen, Auntie. Ich wollte nur schauen, ob sie es bis ins Eisfach und mit Ladung wieder zu mir schaffen.”

Lex seufzte. Mit Magisch Erwachten hatte sie noch genug Erfahrung, aber von Digital Erwachten oder “Technomancern” verstand sie wenig (außer Calebs Empfehlung, immer mit aktuellen Sicherheitsupdates zu Besuch zu kommen).

Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Kühlschranktür, drehte dann kurz den Kopf zur Seite und schnippte telekinetisch Mary’s halbgegessenes Eis in ihre Hand (mit Mary’s Protest) und begann, es aufzuessen.

“Ich weiß wirklich nicht, warum Caleb immer genau dann das Eisfach neu füllt, wenn ich komme.”

Anne stand von der Bank auf und gesellte sich zu den anderen. “Du meeeeinst, dass wir alle hiiier stehen und du uns im Weg stehst?”

Lex legte den Kopf schief. “Eis nach Hausaufgaben.”

Die fünf schauten sich an und stürmten dann mit einem lauten “Eis statt Hausaufgaben!” auf Lex zu, die sie alle prompt mit einer Handbewegung in die Luft hob. Etwas Blut lief nach dieser geistigen Belastung aus ihrer Nase.

“Niemand von euch fünf kann mich dazu überreden, euch das vorher zu geben.”

Tina bleckte schwebend ihre Hauer. “Wir haben Verstärkung.”

Hinter Lex begannen die neulich von Simon eingebauten Servomotoren der Kühlschranktür zu surren und die Tür aufzuschieben, als das Kühlschrankdisplay zum Leben erwachte.

“Miriam. Gewähre diesen wackeren Kindern Zugang zu meinen eisigen Schätzen. Du kannst nicht gewinnen.”

Lex verdrehte die Augen.


2075-11-02 11:30 p.m.

Als die Kinder endlich schliefen, setzte sich Lex wieder an den Küchentisch und las erneut Butch’s Nachricht über ihre Blutanalyse, während sie darauf wartete, dass Caleb von der Arbeit zurückkehrte. Sie hatte Caleb Informationen gegeben, was es mit der mysteriösen Situation auf sich hatte, die sie und die anderen Runner des Haven schon seit Wochen beschäftigte und deren KE-interne Files für Caleb gesperrt waren, und hoffte inständig, dass sie nicht unbewusst Caleb oder seine Kinder durch ihre Beteiligung in Gefahr brachte. Zwerge und Erwachte zeigten laut Butch zwar mehr Resistenz gegen die Infektion, aber Orks und Trolle (und, in Caleb’s Fall, augmentierte Trolle) waren wohl eine mögliche Risikogruppe. Und sie schuldete Caleb viel dafür, dass er ihr vor 10 Jahren geholfen hatte, in Seattle unterzutauchen, und wollte es ihm nicht so danken.

Lex hatte Caleb schon lange davor gekannt. Als sie noch Detective Miriam Hall bei Lone Star in Houston gewesen war, war Caleb, der gerade in Seattle in der IT von Lone Star angefangen hatte, ihre Kontaktperson gewesen, wenn es um Nachverfolgung von Verdächtigen zwischen Counties und Städten mit einem Lone Star-Polizeivertrag ging, was sich durch mehr oder weniger offene Diskriminierung (abhängig von der Körpergröße) vonseiten der Kollegen zu einer Freundschaft entwickelte.

Nachdem Miriam mit Calebs Hilfe ein Dossier mit Informationen über (selbst für Lone-Star-Verhältnisse übermäßige) rassistische Polizeigewalt ihres Vorgesetzten James Crow (der sich bei der lokalen Lone-Star-Truppe großer Beliebtheit erfreute) an die Presse geleakt hatte und Crow (mit einer großen Abfindung) entlassen worden war, verschlimmerte sich die Situation. Es gab natürlich nie Beweise, dass sie hinter diesem Dossier steckte (Caleb hatte bei der digitalen Spurenentfernung gute Arbeit geleistet), aber jeder Lone-Star-Polizist in Houston wusste, dass es nur diese halbstarke Zwergin, die Crows (und ihr) Lieblingsziel und -wurfgeschoss war, gewesen sein konnte. Dann kam der zweite Matrixcrash.

Miriam sah ihre Chance und verschwand aus Houston, nachdem Caleb im Chaos des Crashes ihre Personalakte modifiziert und ihre biometrischen Daten im Lone-Star-System geändert hatte.

Seattle war 2064 zwar ebenfalls unter Lone-Star-Kontrakt, aber außer Caleb kannte sie kein Lone-Star-Mitarbeiter in der Stadt, ihre Daten waren verwischt und Caleb hatte ihr eine neue SIN besorgt. Und als 2072 Knight Errant den Polizeivertrag von Lone Star übernahm (und Caleb prompt von KE übernommen wurde), fiel auch diese Sorge weg.

Nach einigen Jahren des einsamen Kopfgeldjagens hatte sich jedoch herausgestellt, dass es doch eine andere LS-Person in Seattle gab, die sie kannte: Crow hatte sich nach seiner reich entlohnten Entlassung in Renton niedergelassen und setzte sein neu erworbenes Vermögen ein, um mit den lokalen Humanis-Anhängern weite Teile seiner Nachbarschaft „rein“ zu halten.

Lex hatte über die Jahre zwar fleißig Informationen über seine Aktivitäten gesammelt und knüpfte Verbindungen zum Orkuntergrund und Metarechtsaktivisten, damit etwas gegen ihn getan werden konnte, aber mittlerweile war Crow vorsichtiger geworden. Und es half nicht, dass Crow immer mehr das Vertrauen von Gouverneur Brackhaven gewann, der seine Einstellungen teilte.

Sie schaltete das AR-Display aus und wartete darauf, dass Caleb von seiner Schicht zurückkam, während sie sich noch ein Himbeereissandwich genehmigte.


TL;DR (sollten knapp über 3 Seiten sein)

  • Lex spielt Aufsicht für die fünf Tunichtgut-Kinder ihres Freundes Caleb und muss sie vom Eiscremefach weghalten
    • Mary, die magische Pyromanin
    • Anne, die Kletteradeptin
    • Philip, der Schläger
    • Simon, der Techniknerd
    • Tina, die Technomancerin
  • Lex reminisziert darüber, wie sie aus Houston nach Seattle gekommen ist.
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Na toll, hätte ich mal erst durch gelesen und das TL;DR gelesen :smiley:
So hab ich nach der hälfte noch mal hoch gescrollt, um zu schauen, wie verschieden die Kinder sind und wollte es jetzt ansprechen :joy:

Sehr cool geschrieben und ich finde es sooooo nice, dass die Kinder sich so unterschiedlich entwickeln. :smiley:

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Am Ende ist mir gekommen, dass ich für die fünf evtl noch mehr Details und Variation beim Aussehen hätte reinmachen können, aber es war so schon an der Normale-Fic-Länge-Grenze. :sweat_smile:

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