30.06.2077 - Abschiebehaftanstalt WDOC Cheyenne
Jazz begutachtete intensiv den dunkelblauen Fleck auf den Rippen der grauhäutigen Trollin der sich weiter auf ihrem Rippenkasten ausbreitete. “Das sieht nicht gut aus Bibbi…” murmelte die Menschin. Die große Trollin ließ ihr Shirt sinken und sah Jazz grummelig an. “Und ich habe hier drin meine Ritualglocken nicht… Mist aber auch. Warte. Halt die Augen auf dem Gang offen!”
Jazz stellte sich an die Gitterstäbe während die Fomori Dame (eine keltische Abzweigung der Trolle wie Jazz gelernt hatte) einen tiefen nordisch klingenden Gesang anstimmte und sich die Hände auf die Rippen legte. Ein gedimmtes Leuchten strömte aus ihren Händen in ihre Haut. “So das sollte tun. Gut habe ich mir die Zauberprivilegien beim Sex mit Wärter Garrett verdient.” Sie grinste breit. Bibbi war schon seit 3 Jahren in dieser Abschiebeeinrichtung. Die skandinavische Union weigerte sich, aus welchem Grund auch immer, abgeschobene anzunehmen. Niemand hatte Jazz bis jetzt sagen können wie es mit Spanien aussah.
Sie ließ sich auf ihre Pritsche sinken und atmete tief durch. Bibbi hatte ihr Verletzung in einer Gangschlägerei auf dem Hof abbekommen. Eine Gang Trollinnen hatte es auf Jazz abgesehen und da ihr hochmilitäsicher Cyberarm an ihr runter hing wie eine uninspirierte Spaghetti hatte sich die Fomori Dame schützend vor sie gestellt.
Jazz hatte hunger, ihre Haut juckte von der schlechten Wasserqualität und seit Holliday gestern gegangen war vermisste sie ihn viel mehr als bevor er da war. Sie hatten sich nicht einmal umarmen dürfen und sie war vor ihm aus dem Raum gezogen worden wie eine Schwerverbrecherin. Wie die Schwerverbrecherin die sie war. Noch nie war ihr das so bewusst gewesen wie in den letzten Tagen in ihrer Haft in der ‘illegale Einwanderung’ mit Abstand der netteste Grund war für den man sie hätte einsperren können.
Die Wärter hatten bereits besprochen ob man ihr nicht ihren Arm abnehmen müsse. Tauschen müsse gegen eine einfache Low-Tech Prothese. Jazz wurde beim Gedanken daran schlecht. Was wenn die Gerüchte stimmten? Was wenn es wirklich 12 Jahre dauern könnte bis sie wieder einen Fuß aus diesem Gefängnis setzen könnte. Mit Einreiseverbot in die Sioux Nation auf Lebenszeit natürlich. In 12 Jahren war sie 43 Jahre alt. War sie einen Geisterpakt dafür eingegangen in diesem dunklen Loch etwas langsamer zu versauern?
Jazz zog unter ihrer flachen Matratze eine Schachtel Zigaretten hervor. Ein weiteres Privileg, welches ihr Bibbis Sex mit Garret eingebracht hatte.
“Mach mal an.” Grummelte Jazz leise zu Bibbi rüber die ihre kleine Kollektion an Kakteen neben ihrem Fenster begutachtete. “Pflanzen lassen einen hier drin bei Verstand bleiben Jessica! Wenn sie überleben weißt du, dass du es auch schaffst!” Die Fomori lehnte sich herüber und schnippte um Jazz die Zigarette an zu machen.
Jazz zog 2x kräftig an der Zigarette. Die Ausnüchterung des Kamikazes von Ashes Sieg steckte ihr noch immer in den Knochen. Sie drückte die aufgerauchte Zigarette auf dem Boden aus und wedelte den Rauch weg.
Vor ihnen kamen mehrere Schritte den Flur entlang. Jazz legte sich mit dem Gesicht zur Decke gerichtet auf ihre Pritsche. Die Wärter blieben vor ihrer Zelle stehen. “Gefangene 1051919931. Aufrichten.”
“Das bist du Jessi.” Erwiderte Bibbi ruhig und Jazz seufzte.
Sie setzte sich auf und blickte in ein überraschend vertrautes Gesicht.
“Wie ich rieche hast du meine Lieferung erhalten.” ein Lächeln zog sich über das Gesicht des Mannes und Jazz sprang auf und rannte an die Gitterstäbe.
“Javier! Was machst du denn hier?!” Sie versuchte ihn durch die Stäbe zu berühren aber ein Wärter hob drohend den Elektroschlagstock den Jazz in den letzten Tagen schon gut kennengelernt hatte.
Javiers böser Blick ließ zu ihrer Überraschung den Wärter zurückschrecken.
“Dich hier rausholen Jessica. Oscuro hat mich angerufen. Und zu deinem Glück spielen einige der Wärter hier etwas zu gern mit der karibischen Mafia Poker! Deine Schulden sind damit dann beglichen Garrett.” Der Mafiaboss grinste den schwitzigen dunkelhaarigen Menschen an.
“Siehst du! Ich hab doch gesagt du wirst deine Schulden los!” rief Bibbi von hinter Jazz fröhlich.
“Dürfte ich jetzt bitten, die Herren? Entgegen der öffentlichen Annahmen habe ich leider noch mehr Dinge zu tun als schöne Frauen aus dem Gefängnis zu holen.”
“Wir müssen Bibbi mitnehmen!” rief Jazz, aber die Fomori Dame winkte ab. “Komm selbst erstmal raus. Die Anwaltskatze kann bestimmt helfen! Oder diese schwedische Rockstar die du kennst! Wenn die öffentlich ein bisschen Terz macht bin ich hier schnell raus!” Die Trollin drückte sie noch einmal, blinzelte Garrett zu und wandte sich dann wieder ihren Kakteen zu.
Jazz wurde durch anonyme Gänge geführt und in ein Zimmer gestoßen in dem ihr klar gemacht wurde, dass ihr Aufenthaltsrecht in der Sioux Nation mit sofortiger Wirkung aufgehoben wird, sie sofort auf den Weg zum Flughafen sollte, das Land nach Spanien verlassen und sich vor Ort mit den Behörden auseinandersetzen sollte.
Vor den Toren des Gefängnisses stiegen Jazz und Javier in einen großen schwarzen Chevrolet Suburban mit getönten Scheiben. Javier reichte ihr eine Flasche Rum und Jazz Augen füllten sich mit Tränen. “Javier ich… Ich weiß nicht wie ich das je… Du hast mich aus dem Gefängnis geholt!” Sie rutschte auf den Sitzen näher an ihn heran und fiel ihm in die Arme. Auf einmal roch sein Aftershave nicht mehr beißend nach Mückenschutz sondern nach den warmen Strandpromenaden Havannas. Nach Cocktails auf einer Yacht und durchgefeierten Nächten im Hippodrom. Und zum ersten Mal fiel ihr auf wie sehr sie ihre Zweitheimat vermisste. Einen Ort der so wie sie ihn in Erinnerung hatte nicht mehr existierte und nie wieder existieren würde. Sie setzte die Rumflasche an und trank ein paar Schlucke. Dann ließ sie sich in den tiefen Sitz des SUVs fallen.
“Du nimmst mich mit oder? Zurück nach Havanna? Wo mein Langzeitvisum ja noch gilt…” Ihr Herz wurde schwer. Dann wären treffen mit Holliday wenn überhaupt nur noch selten möglich und…
“Ich habe darüber nachgedacht Jessica. Wirklich. Ich kam sogar hierher mit der Intention dich wieder mitzunehmen. Aber dann dachte ich mir… Was hätte sich im letzten Jahr dann geändert? Du wärst wieder meine Gefangene. Ich… Ich habe verstanden, dass du nicht bei mir sein willst Jessica. Auch wenn dich zu sehen und zu halten… vielleicht das Highlight meines Jahres ist. Aber ich kann dich nicht zwingen das Gleiche für mich zu empfinden wie ich für dich fühle. Also… Wir fahren zu einem kleinen Privatflughafen. Oscuro sollte den Elfen bereits kontaktiert haben und sich mit ihm auf den Weg machen. Die Maschine wird in Barcelona landen. Die örtlichen Behörden sollten dich durchwinken und Oscuro und dem Elfen ein Langezeitvisum ausstellen. Mehr kann ich nicht für dich tun außer den 2 Kisten Rum im Kofferraum und…” Er zog einen Credstick aus seiner Brusttasche.
“Javier ich kann kein Geld von dir annehmen.” Jazz schüttelte vehement den Kopf.
“Das Geld ist zum einen deine Bezahlung dafür die Batistas in diesem Land mehr gestärkt zu haben als es meine Angestellten hier in den letzten 20 Jahren geschafft haben. Zum anderen ist es eine Vorrauszahlung den gleichen großartigen Job in Spanien für uns zu leisten. Die spanischen Batistas brauchen ein neues Oberhaupt nachdem mein Onkel im März verstorben ist. Und ich glaube niemand ist besser für diesen Job als du und Oscuro.” Während der SUV sich langsam in Bewegung setzte küsste Javier ihre Hand und legte den Credstick in sie hinein.
Am Flugzeug angekommen standen bereits Oscuro und Holliday auf dem Rollfeld.
Jazz verabschiedete sich distanziert aber liebevoll von Javier. “Wenn ich darf komme ich dich mal in Barcelona besuchen? Um dein neues Vermächtnis zu bewundern?”
“Jederzeit.” Jazz lächelte und umarmte ihn ein letztes Mal bevor er in sein Privatflugzeug stieg.
Danach fiel sie Holliday in die Arme und stieg selbst in ihr Privatflugzeug nach Barcelona.
Zwei Wochen später - Plaça De Sant Pere - Barcelona
Die Sonne musste gerade erst aufgegangen sein und zu seiner Verwunderung stellte Holliday fest, dass das geräumige Holzbett welches in beige Seide gehüllt war, neben ihm leer war.
Er stand auf und warf sich provisorische Kleidung über. Er hatte sich angewöhnt bei Gelegenheit auch mal die ein oder andere Adeptenkraft auszustellen und so hörte er leise den Holzboden in der alten Wohnung unter seinen Füßen knarzen. Es roch nach Holz und schon jetzt konnte man durch die geöffneten Fenster Quesadillas und Paella riechen die in den umliegenden Wohnungen zubereitet wurden.
Barcelona beherbergte den europäischen Hauptsitz von Aztech und den Hauptsitz der Sol Media Group. Ansonsten war der eher kleine Sprawl durch seinen touristischen Fokus über weite Teile von den AAA Kons verschont geblieben und hatte es trotzdem zur reichsten Stadt Spaniens gebracht. Es war voll von beeindruckenden historischen Monumenten und gut erhaltener, historischer Bausubstanz, namentlich im Barri Gòtic, dem gothischen Viertel mit seinem Irrgarten mittelalterlicher Straßen, die teilweise noch aus der Römerzeit stammen und in deren Mitte Jazz und Holliday jetzt lebten. Weiterhin gab es auch zahlreiche Restaurants, Modeboutiquen und Clubs, die Touristen anziehten, so dass sich Barcelona - was die touristische Attraktivität (und den medialen Einfluss) angeht - kaum vor Nizza und Neu Monaco verstecken musste.
Barcelona war… gemütlich. Ruhig. Bereits jetzt hörten seine feinen Elfenohren erste Straßenmusiker in den Städten spielen. Diese Stadt war wie Jazz als Personifikation einer Stadt . Warm und herzlich mit viel liebe für die Südlande und einem kleinen Alkoholproblem über das man bei der Optik gerne hinwegsah.
Er lächelte als er Jazz in einen feinen dunkelgrünen Kimono gehüllt auf ihrem Balkon, der mit Blick auf den kleinen Platz an dem sie lebten lag, fand. Sie blickte gerade Antonis Jungen hinterher welche in Barcelona kommen und gehen konnten wie sie wollten. Die Parkanlagen von Barcelona beherbergten bereits seit Jahrzehnten eigene kleine Papageienpopulationen und die Vögel konnten sich hier pudelwohl fühlen.
Charly und Pia hatten ihr zu Hause bei ihren Pferden auf einer Ranch etwas außerhalb gefunden und waren dort sehr glücklich.
Die Schlange Medusa kletterte gerade neben ihrer Eigentümerin eine kleine Palme hinauf um den Tag in der gedämpften Sonne der Innenstadt zu verbringen.
Jazz hatte sich diesen kleinen Platz in Barcelona nicht ohne Grund ausgesucht. In dem kleinen Restaurant mit Bar gegenüber hatte ihr Vater jahrelang gekocht.
Holliday schloss sie von hinten in seine Arme als ihm auffiel was sie beobachtete. An dem kleinen Restaurant welches Jazz für ihre Mafiaaktivitäten gekauft hatte wurde soeben ein großes Neonschild von einer Gruppe Arbeiter angebracht.
“INICIO - Bienvenido a casa.”
[HEIMAT - Willkommen zu Hause.]