Nicolay, Jahm und Mishka
6 Wochen zuvor
Nicolay zog an beiden Steuerseilen seines Paragliding-Schirms um die Landung etwas abzufedern, indem er den Schirm noch einmal kurz ansteigen ließ.
Er stolperte kurz, da das Gewicht der geretteten Geisel auf seinem Rücken genauso ungewohnt war, wie das Terrain auf dem er gelandet war. Während er sich von dem Schirm befreite, lies er seinen Blick über das Ufer des Mississippi schweifen, an welchem sie gelandet waren, um sicherzugehen, dass keine unmittelbaren Verfolger auf sie warteten.
Er zog sich die schlaffe Gestalt vom Rücken und legte sie vorsichtig auf dem Boden ab. Jahm hatte sich bereits von ihrem Geschirr befreit und war auf dem Weg herüber zu ihnen. Sie erreichte die beiden gerade, als Nicolay der Gestalt die Kapuze vom Kopf zog, welche sie die ganze Zeit verdeckt hatte.
Jahms Kehle entwich ein leiser, gequälter Laut, als sie neben Mishkas leblosen Körper auf die Knie sank.
Nicolay konnte nur mit Schwierigkeit feststellen, dass es sich bei der Person tatsächlich um seinen Cousin handelte.
Der Aufenthalt in Maxwells Gefangenschaft hatte Mishka offenbar nur um Haaresbreite überlebt.
Jahm blickte fassungslos auf das blutüberströmte Gesicht und suchte mit zitternden Fingern an Mishkas Kehle nach einem Puls. Nicolay hatte bereits seine DNI-Verbindung genutzt um den einzigen Kontakt in New Orleans zu kontaktieren, von dem er glaubte, dass er ihm helfen können würde.
„Broker, ich brauche einen weiteren, riesigen Gefallen von dir. Sag dem Getaway-Fahrer des Botes, dass er uns in der Nähe des nächsten und besten Streetdocs absetzen soll. Und dann informiere den Doc darüber, dass er sich für eine Notfall-OP bereitmachen soll. Wir müssen mindestens einen Arm amputieren und ein Paar Cyberaugen vorrätig wäre wahrscheinlich auch von Vorteil. Ich würde ja Bioware bevorzugen, aber wir haben uns heute Abend einen großen Feind gemacht und ich muss Mishka so schnell wie möglich aus der Stadt schaffen, also nehm ich alles was du auf die Schnelle besorgen kannst.“
Daraufhin herrschte kurz eine absolute Stille am Ufer des Flusses, während Nicolay der Antwort von Broker lauschte.
„Ja. Ich verstehe. Danke. Ich weiß, dass ich dadurch sehr lange in deiner Schuld stehen werde, aber ich wusste niemand anderen in der Stadt dem ich genug vertrauen würde und der die passenden Kontakte gehabt hätte.
Ja. Danke nochmal.“
Nicolay beendete die Verbindung.
„Broker hat nach dieser Nacht noch einen Auftrag für mich hier in der Stadt, bevor ich mit Mishka untertauchen kann.“ sagte er nun in Richtung Jahm gewandt. „Du solltest dir überlegen, was deine nächsten Schritte sein werden.“
Jahm blickte ihn an und Nicolay erkannte in ihrem stählernen Blick, dass sie ihre Entscheidung bereits gefasst hatte.
„Ich werde mit euch kommen. Nach dem Stunt, den wir heute Abend abgezogen haben, wird mein Vater und der Rest der Familie mich nicht wieder zurückhaben wollen. Und ganz ehrlich, das ist mir gerade recht.“
Ebenfalls den Puls seines Cousins prüfend, kniete sich Nicolay neben an das schlammige Ufer des Flusses.
Es erstreckte sich eine angespannte Stille, während beide den äußerst schwachen Herzschlag des Mishkas überwachten. Als nach kurzer Zeit der Motor eines Schnellboots zu hören war, meldete sich Jahm noch einmal zu Wort.
„Wenn wir drei diese Nacht überleben sollten, hätte ich eine Idee, wo wir untertauchen könnten.
Als wir Ben verlassen haben, meinte er zu mir, dass ich gerade erst am Anfang meiner Ausbildung wäre. Er sagte mir, wenn ich stärker werden wolle, sollte ich in der Wüste Nevadas die Krone der blutigen Steppe finden und in meinen Besitz bringen. Und ich denke mal, niemand wir uns finden, wenn wir irgendwo in der Wüste ein Artefakt suchen, oder?“
Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend, warteten beide darauf, ob sie diese Nacht überleben würden und was die Zukunft wohl bringen mochte.
5 Wochen später
Mit einem Seufzen beendete Nicolay die Verbindung zum Jackpoint. Broker war also in Seattle wieder aufgetaucht. Er war erleichtert, nun zu wissen wo sich Broker zur Zeit aufhielt. Wobei er wirklich gehofft hatte für die nächste Zeit noch einen Bogen um Seattle machen zu können. Sowohl er, als auch seine Reisekumpanen standen allerdings bei Broker in der Schuld und sie konnten nicht einfach untergetaucht bleiben, wenn Broker eventuell ihre Hilfe benötigte.
Außerdem würde Nicolay ihm den letzten Gefallen so schnell nicht vergessen.
Seufzend drückte er sich von der schmalen Bank hoch, die unter ihm ein Knirschen vernehmen ließ, und schaute sich in dem kahlen Raum um, in dem er sich befand. Spartanisch eingerichtet, erinnerte der Raum stark an das Wartezimmer einer Arztpraxis. Nicolay musste jedoch zugeben, selbst der schlechteste Streetdoc weniger Blutflecken in seinem Behandlungs-Hinterzimmer haben würde, als hier anzutreffen waren.
Aus einem Gang zu seiner Linken, wehten vereinzelte Schreie herein und man konnte leise etwas wie einen Tumult ausmachen.
Nicolay ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Er stellte sich kurz vor den verschmierten und gesplitterten Spiegel um darin noch einmal sein Krawatte zu richten. Sie saß noch immer makellos, allerdings sorgte dieser Ort dafür, dass sich Nicolay ständig einbildete, er habe irgendwo Schmutz auf sich.
Es war an der Zeit, diesen gottverlassenen Ort hinter sich zu lassen. Das ganze musste er jetzt nurnoch Mishka und Jahm beibringen.
Mishka wäre nicht sonderlich begeistert davon nach Seattle zu reisen, da er doch versucht hatte Abstand zum Rest der Familie zu gewinnen. Aber Nicolay vermutete, dass sein Gefühl der Dankbarkeit und Schuld gegenüber Broker überwiegen würde.
Allerdings vermutete er, dass Jahm etwas schwieriger zu überzeugen sein würde. Sie hatte es sich wirklich in den Kopf gesetzt, die Krone der blutigen Steppe in ihren Besitzt zu bringen.
Nicolay seufzte lange und tief. Nun ja, er würde ihr damit vielleicht etwas helfen müssen, da er sich Ende der Woche auf den Weg machen wollte.
Trotz der 45 Grad, die in dem Raum herrschten, warf sich Nicolay sein Jackett über und machte sich auf den Weg den Gang entlang und dem Licht und Lärm an dessen Ende entgegen.
Auf halbem Weg den Gang hinunter, begann Nicolay einzelne Stimmen des Geschreis zu verstehen, welches ihm entgegenhallte.
„Ohhhh, und da hat er Sie mit dem Speer durch den Oberschenkel erwischt. Das sieht nicht gut aus, für unsere junge Gladiatorin. Diese vier Hungry Hayenas sind echt auf Blut aus . Uuuuund die Menge leibt es!!!“
Hörte Nicolay den Kommentator über die Lautsprecher. Es war das ohrenbetäubende Schreien einer Zuschauermenge zu vernehmen.
„Der Speer scheint sie an den Boden gepinnt zu haben. Ist das das Ende für unsere junge Amazonin?
Neeeeeeiiiin. Ist es nicht. Es war eine Illusion.“
Erneutes Brüllen der Zuschauer lies den Boden um ihn herum erzittern.
In diesem Moment betrat Nicolay die Arena. Nachdem er kurz vom Scheinwerferlicht geblendet worden war, konnte er die Scene vor sich ausmachen.
Jahm hatte gerade eine Illusion aufgelöst und war dabei, dem zweiten der Hungry Hayenas mit einem Feuerball den Helm wegzuschmelzen. Der erste lag bereits brennend hinter ihr und die zwei verbleibenden Orks in leichter Rüstung, mit ihren MPs und Combat-Äxten, sahen nicht ganz so begeistert aus, während eine junge Frau mit brennenden Händen auf sie zustürmte.
Auf dem riesigen Holo-Display, welches über den Köpfen der Teilnehmer schwebte, konnte er erkennen, dass Mishka offenbar hinter einer Wand in Deckung gegangen war und von einem Gladiatoren in Ganzkörperpanzerung mit einer Minigun unter Beschuss stand.
Die Stimme des Kommentators erschallte „Und es sieht so aus, als hätte sich der Manager des ‚F*ck You Ben‘ Teams dazu entscheiden selbst in die Arena zu steigen. Ladies and Gentleman, was für eine Entwicklung.“
Nicolay seufzte. Sie waren alle etwas verstimmt gewesen, als sie herausgefunden hatten, dass die ‚Blutige Steppe‘ eine Deathmatch Arena in der Nähe von Las Vegas war. Und das es sich bei der Krone offenbar um den ersten Preis für ein monatliche stattfindendes Turnier handelte. Dementsprechend drückte der Name ihres Teams, seine mentale Einstellung zu dem Zeitpunkt aus, als er sie zusammen als Team für diesen Wettkampf angemeldet hatte.
Wenn er sich allerdings anschaute, wie Jahm diese Gladiatoren mit ihren Feuerbällen auf Traub hielt, konnte er jedoch nicht abstreiten, dass Ben hier einen guten Ort zum trainieren vorgeschlagen hatte.
Solange es einem nichts ausmachte, dass hier mit scharfer Munition geschossen wurde und regelmäßig Gladiatoren ums Leben kamen.
„Ich wurde gerade von unserer Redaktion aufgeklärt. Tatsächlich handelt es sich bei diesem Schrank im Anzug sowohl um den Manager, als auch den dritten, bisher ungesehenen Gladiator des Teams.“
Diesmal waren laute Buhrufe und Gelächter aus dem Publikum zu vernehmen.
Nicolay kümmerte sich nicht weiter darum und öffnete einen Kanal zu seinen beiden Teamkameraden.
„Kinder, es ist soweit. Unser gemeinsamer Wohltäter ist wieder aufgetaucht und wir sollten langsam hier zusammenpacken und aufbrechen.“ Er war vorsichtig hier keine Einzelheiten zu nennen, da er sich sicher war, dass die Leitung nicht sicher sein würde.
„Hast du mich gerade als Kind bezeichnet?“ kam Jahms stimme drohend zurück.
„So unkontrolliert, wie du gerade dem Typen hinter dir in Brand gesetzt hast, hat er damit nicht unrecht.“ war Mishkas Stimme etwas gehetzt zu vernehmen. „Du weißt, dass wir hier gewinnen wollen, ohne jemanden umzubringen?“
„Das musst du gerade sagen Skar. Hast du nicht gerade diesem Typen mitten ins Gesicht geschossen?“
„Ach, der kommt darüber hinweg. Hast du gesehen, wie gepanzert sein Helm ist? Da kommen die Kugeln meines Revolvers nie im Leben durch. Außerdem hat er zuerst versucht mich mit diesem Monster einer Waffe zu durchlöchern.“
Nicolay seufzte erneut. Irgendwie hatte er das Gefühl dies in der letzten Zeit sehr viel häufiger als vorher zu tun.
„Es ist mir egal, wer hier zuerst wen fast umgebracht hat. Ihr müsst beide bessere Zurückhaltung lernen.“ tadelte Nicolay die beiden anderen.
„Und beeilt euch mal mit dem Kampf. Ich will hier so schnell wie möglich los.“
„Dann wäre es echt nett von dir, wenn du uns wenigstens im Finalkampf mal unter die Arme greifen würdest.“ kam Jahms Stimme noch gereizter zurück.
„Ihr beide wart diejenigen, die meinten, dass ihr Training nötig hättet, damit sowas wie in NO nicht nochmal passiert. Ich wollte euch dabei keine wertvollen Erfahrungen verwähren.“
Diesmal war es Mishka, der antwortete und Nicolay konnte das unterdrückte Lachen in dessen Stimme vernehmen. „Du meinst, du wolltest dir deinen Anzug kaputt machen lassen, weil du kein Nähzeug dabei ist und dies dein letzter ist?“
Nicolay schnaubte verächtlich. „Haltet ihr mich für so eingebildet?“ fragte er gekränkt.
„Ja!“ kam simultan die Antwort der beiden anderen.
„Ok, das reicht jetzt. Ich zeige euch mal, wie das geht. Hinsetzen und zuschauen Kinder.“ sagte Nicolay verärgert, als er weiter in die Arena schritt.
2 Stunden später
„Nicolay, hast du nicht vorhin etwas von Zurückhaltung gesagt?“ fragte Mishka, während er seine schwarze Sporttasche in den Kofferraum des Msuclecars warf. Die Bewegung sah mühelos aus, aber Nicolay war sich ziemlich sicher, dass dies nur durch die Unterstützung von Mishkas rechtem Arm möglich war. Dieser bestand komplett aus Cyberware, so wie ein beträchtlicher Anteil des Restes seines Cousins. Die Augen und der Arm waren die auffälligsten Änderungen, aber Nicolay wusste, dass auch große Teile seiner Beine und einige innere Organe durch Cyberware ersetzt worden waren. Es war alles nicht die beste Ware, aber sie hatte Mishka das Leben gerettet.
„Ich weiß nicht was du meinst. Ich habe nur dafür gesorgt, dass wir da möglichst schnell rauskommen um aufbrechen zu können.“
„Du hast Granaten verwendet, Nicolay. Wie ist das zurückhaltend?“
Kurz schwieg Nicolay. Dann antwortete er. „Es ist niemand gestorben, oder? Ich weiß, der eine Zwerg war ganz schön mitgenommen, aber dafür bietet die Arena doch wohl diese Premium Docwagon Verträge, während man hier kämpft.“
Durch das heruntergelassene Fenster erklang Jahms Stimme vom Rücksitz. „Ich bin ehrlich gesagt überrascht, dass du ihm nicht noch mehr verprügelt hast. Der Blick, den du drauf hattest, als seine Monofilamentpeitsche dein Jackett zerschnitten hat, war echt beängstigend.“
Nicolay gab nur ein kurzes Grunzen von sich. Er war vielleicht wirklich etwas zu weit gegangen. Aber es war sein letztes Jackett gewesen und er hatte wirklich an dem Stück gehangen.
Er sah sich noch einmal kurz um und checkte, dass sie auch alles eingepackt hatten.
Sie standen in der prallen Sonne auf einem Parkplatz am Rande von Vegas. Jahm saß schon auf den Rücksitz des Musclecars, mit dem sie die lange Fahrt nach Seattle antreten wollten.
„Wenn du mich da nochmal dran erinnerst, mache ich den Roadtrip alleine mit Mishka und du darfst laufen.“ erwiederte er schließlich, während er sich die Ärmel seines weißen Hemdes über die Ellbogen hochrollte.
„Ganz ehrlich, ich würde auch viel lieber fliegen. Aber Mishka musste ja unbedingt dieses Auto von unserem letzten Geld kaufen.“
Breit grinsend lies sich Mishka auf den Beifahrersitz fallen. „Das ist ein absolut neuwertiger Muscle 181. Weißt du wie wenige es davon gibt?“
Nicolay stieg hinter das Steuer. „Ich bin nur froh, dass sie es den nurnoch in Troll-Größe gab.“
Er schloss die Tür hinter sich, setzte sich seine Sonnenbrille auf und startete den Motor.
„Und jetzt anschnallen Kinder. Ich hoffe, dass wir es in unter einer Woche nach Seattle schaffen und da müssen wir echt glück mit den Grenzbeamten haben um das zu schaffen.“